Ein Radio mit Geschichte · 21. März 2013

Da nun auch in der Werkstatt die Rundfunksteuer fällig geworden ist, kann ich auch Radio hören und habe ein altes Gerät hervorgekramt: “Babett”.

Zur Jugendweihe anno 1981 habe ich ein “Sonett” bekommen. Das war ein einfacher Kassettenrekorder; wenn man damit Musik aus dem Radio aufnehmen wollte, mußte man ein Mikrofon vor den Lautsprecher stellen. “Babett” war ein Fortschritt, nämlich ein Radiokassettenrekorder. Als ich in Strausberg bei Berlin als Unteroffizier in der NVA meinen Wehrdienst leistete, nahm ich “Babett” mit. Die DDR-Sender mußten mit schwarzem Klebeband markiert werden, und der rote Sender-Anzeiger durfte nicht zu sehen sein, sondern mußte immer unter den Markierungen stehen. War der Anzeiger doch zu sehen, wies das auf das Hören von Westsendern hin, und man mußte das Gerät abgeben.

Die Genehmigung zum Betrieb erteilte nicht etwa der Kompaniechef, sondern ein Stabsoffizier, ein Major. Die NVA hatte sehr viele Offiziere, die beschäftigt werden mußten. Heute suche ich mir meine Sender selber aus.

— Martin Z. Schröder

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Ein wirklich stattlicher Mann gibt ein Preisrätsel auf · 4. November 2009

Soeben bei SuKuLTuR erschienen ist dieses Heftchen namens “Wenn ein wirklich stattlicher Mann Studenten unterrichtet” mit einer den regelmäßigen Blog-Lesern bereits bekannten, nun kräftig überarbeiteten Geschichte, das (also das Heftchen, welches) eine eigene Geschichte hat, welche (also wiederum diejenige, welche eben) der (jener) Heftchen-Verleger Marc Degens aufschrieb. So wirr ist das Heftchen nicht geschrieben! Viel besser ist es, natürlich.

Die Titel-Grafik ist vollständig im Bleisatz entstanden. Das Zierstück, auf das die erhobene Hand weist, entstammt dem Material der Eremiten-Presse, dessen Übernahme ich schon mehrfach erwähnte. Der Kopf des Mannes ist eine gedrehte Letter, ein Ö. Und die Zuhörer dieses Lehrers, die ihn da von unten anglotzen, sind Ä, Ö und Ü aus verschiedenen Schriften. Es sind sieben Lettern aus sechs Schriften.

Hier der fotografische Beweis. Wobei “Bleisatz” die Verwendung von Messinglinien in Armen und Beinen nicht ausschließt.

Das ist das Ö.

Hier Ä und Ü.

Ü, Ö, Ä, Ö. Vier verschiedene Schriften auf diesem Foto.

Neben dem Reproabzug für die Titel-Illustration sind auch zehn Abzüge auf Echt Bütten (Rundsieb-Bütten von Zerkall mit vierseitigem Büttenrand) im Format 113 × 175 mm entstanden. Von diesen Abzügen sind fünf für den Verkauf vorgesehen, einer kostet 20,00 Euro. Signiert und numeriert.

Zwei Abzüge aber bilden zwei Preise des Preisrätsels, nämlich für die Absender der ersten beiden richtigen Antworten auf die Preisfrage: Wie heißen die sechs verschiedenen Schriften? Oder ist die Frage abstrus schwer? Nur was für Experten? Ja. Ist doch auch mal schön, eine Preisfrage nur für Experten. (Lösung am Ende des Eintrages, ganz unten.)

Das Heftchen ist in der Druckerey zu bekommen.

Auch das nebenstehend abgebildete mit dem Titel “Rausrieselnde Holzwolle”, das 2005 erschien, ein paar Text-Miniaturen von mir enthält und das Barbara Wrede illustriert hat. (Barbara Wrede stellt zur Zeit in Ingolstadt aus, der Kulturkanal sprach mit der Künstlerin, und direkt zum MP3 der Sendung geht es hier.)

Verkaufspreis je Heft: 1 Euro. Versand: 1 Euro für ein Heft, 1,55 für zwei. Vorkasse. Diese Kleinigkeiten sind wohl am besten zu ordern als Beilage zu einer anderen Bestellung. Man kann die Heftchen aber auch am Automaten ziehen.

Nachtrag Das Rätsel ist gelöst und der Preis geht an PB in S. und FH in B. — Wie heißt es auf einer Postkarte, die ich einst mit Texten von Max Goldt bedruckte, welcher neue Sprüche für Poststempel vorschlug: “Schließe deine Wissenslücken an der Uni von Saarbrücken!”

— Martin Z. Schröder

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Sommergeschichte · 11. August 2008

Wer dieses Blog regelmäßig liest, der kennt schon die Eigenheit des Blogeigners, gelegentlich Geschichtenzeit auszurufen und olle Kamellen herumzuwerfen. Aber diesmal ist die Kamelle nicht oll, denn den Text hat es in dieser Form bislang nur einmal als Lesung gegeben. In der Süddeutschen Zeitung ist nur eine kürzere Fassung erschienen, anno 2006, hier und heute aber breitet ein gewisser Peter Schottenloër seine Darlegungen über sein Leben als Lehrbeauftragter vollständig aus.

Peter Schottenloër ist eine Persönlichkeit des deutschen Geisteslebens, erscheint gelegentlich als Privatier in meiner Werkstatt und fotografiert und überläßt mir sein Pseudonym, wenn ich mal ein neues Visitenkartenmodell (ist zur Zeit nicht online) entwerfen möchte (Schriften auf nebenstehendem Bild: Elegance und Unger-Fraktur) oder eine Hauptfigur für eine Geschichte zu benamsen habe. Es ist also nicht sein echter Name; Herr Schottenloër meint, er lebe lieber jetzt schon parallel als Geist auf einem Visitenkartenmuster und in einer Geschichte fort, weil er nicht wisse, was später von seiner gegenwärtigen Bekanntheit übrigbleiben werde.

Nun also Peter Schottenloër als Hauptperson meiner Sommergeschichte. Wer an meinem Unterricht teilgenommen hat wird bezeugen, daß diese Figur nicht das geringste mit mir gemein hat. Nicht ein Gran!

Hier ein Auszug:

Diesmal dabei eine Estin, die rechnen konnte. Ich hatte eine Frage gestellt, weil ein Student ein kleines Mauersegment beliebig proportioniert aufbauen wollte. Beliebigkeit ist eine Untugend.

Die Frage also lautete: Wieviel mißt die lange Seite eines Formates in den Proportionen des Goldenen Schnittes, wenn die kurze Seite 45 Zentimeter lang ist? Sobald meine kleine Frage den Raum erreicht hatte, schien sie darin anzuschwellen, aufzuschweben und dann wie eine riesige Eisblase gegen den Granitfußboden zu sinken, wo sie zerschellte, worauf sich klirrende Kälte im Raum ausbreitete. Es war so still, daß man das sich eilig entfernende Keuchen einer Fruchtfliege vor dem Fenster hörte. Denn es ging darum, die Zahl 45 mit dem Faktor 1,618, gerundet auf 1,6, zu multiplizieren.

Der junge Mann, der mich ohne sein Wollen auf diese Frage gebracht hatte, senkte schuldbewußt gegen die mit meiner ungeheuerlichen Entgleisung konfrontierten Kommilitonen den Kopf so tief, als wolle er damit zuerst im Boden versinken.

Nicht aus einem einzelnen Munde, sondern wie das in Worte übertragene Klopfen fast aller jungen Herzen im Raum drang murmelnd ein Wort gegen meine Ohren: „Taschenrechner“.

„Ich habe keinen Taschenrechner“, hörte man mich schneidend versetzen.

„Nimm doch das Handy“, empfahl eine mitleidige Kommilitonin meinem Schüler. Er hub sofort das Fummeln mit seinem Telefon an, murmelte jedoch nach kurzer Zeit, daß er das Komma nicht fände. Wozu brauchte er das Komma beim Rechnen?

„Kann hier niemand schriftlich malnehmen?“ fragte ich. Ich wagte nicht, an das große Einmaleins zu erinnern, das zu lernen ich selbst einst verweigert hatte. Offenbar hat die Didaktik bis heute nichts erbracht. Oder hat man das Einmaleins ganz aufgegeben?

„Ich hatte Leistungskurs Deutsch“, sagte ein Student trotzig.

„Waren Sie dafür nicht in der vierten Klasse?“ warf ich ihm an den Kopf.

Wieder war es still, bis auf das Schluchzen des Studenten, den ich gekränkt hatte.

Plötzlich eine leise, aber sichere Mädchenstimme: …

Die ganze Geschichte habe ich für das luxuriöse Lesen auf Papier zum Ausdrucken in PDF-Form gebracht und ist hier zu laden:
Martin Z. Schröder – Der Lehrauftrag.pdf Ich wünsche viel Vergnügen – und jedem Studenten vernünftige Lehrer!

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (5 und Schluß) Wer ist hier Berliner? · 16. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Wer darf sich echter Berliner heißen? Mein Vater ist aus Masuren hierher eingewandert. Die Vorfahren seiner Mutter stammen aus Elchniederung im Norden Ostpreußens, an der Grenze zu Litauen, die seines Vaters ebenfalls aus Masuren. Woher unser Namensgeber Schröder kommt, wissen wir nicht, gerüchteweise ist von den Salzburger Protestanten die Rede. Und eine ganze Generation ist durch die Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg verschollen, im Stammbaum fehlen von vier Personen die Sterbedaten, zwei weitere starben auf der Flucht im Greisenalter in der Fremde.

Der Geburtsname meiner Mutter, Bewer, verrät einen Strang hin zu den Hugenotten, die in Ostpreußen angesiedelt wurden. Die Familien meiner Eltern lebten gar nicht so weit voneinander entfernt, vielleicht kannte man sich sogar. Ein anderer Strang endet bei Ludwig Gesing, 1839 in Potsdam geboren, und Anna Bockfleisch, 1840 in Salzwedel bei Stendal geboren. Diese beiden, Ludwig und Anna, sind meine ältesten Berliner Vorfahren, die Enkelin der beiden war meine Großmutter Frieda, die geduldig meine Detektivspiele mitmachte und von der ich lernte, wie man beim Mensch-ärgere-dich-nicht schummelt.

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis bin ich mit meiner Seßhaftigkeit ein kleines Faktotum, schon die Ururgroßeltern wohnten unweit meiner Wohnung. Zieh doch endlich mal um, werde ich angemault. Ich bin durch dieselben Straßen gegangen wie drei Generationen vor mir. Das ist in Berlin seltener geworden. Eine Großstadt lebt vom Zuzug, von der Bewegung. Viele Berliner waren Vertriebene und Angesiedelte. Wenn ich sage, daß ich ein Deutscher bin, ist das nur ein Teil der Wahrheit. In mir stecken Franzosen, Österreicher und gewissermaßen Polen. Und das ist ja nur ein kleiner Teil der ganzen Geschichte, nur knapp 200 Jahre.

Heute sind Deutsche auch Italiener, Griechen, Türken, Libanesen, Russen und aus vielen anderen Ländern zugezogene Leute, meiner Familie ist sogar ein afrikanischer Wurzelstrang im Stammbaum zugewachsen. Seit ich diese Wurzeln sehe, fühle ich mich den Fremden, die rasch Berliner werden, näher.

Eben lese ich die Berliner Kindheitserinnerungen von Rudolf Borchardt aus den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als auch seine Vorfahren nach Berlin einwanderten. Ich schreibe eine E-Mail nach Ithaca und erzähle von der Lektüre, weil Borchardt ostpreußische Wurzeln hat wie die amerikanische Cousine meiner Mutter, bei der ich vor einigen Wochen auf Fotos meinem Opa Artur vor meinem Kindheitskino in der Schönhauser Allee begegnet war. Einen Tag später die Antwort: In der großen und schönen Bibliothek der berühmten Cornell-University, die ich mir bei meinem Besuch angesehen und die ich rundum bewundert habe, findet sich die Ausgabe der Maximilian-Gesellschaft Hamburg von 1966. Wie mag dieser Privatdruck nach Ithaca im Staat New York gekommen sein? Alles fließt.

Schluß

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (4) Castorfs Kino · 15. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Meine Mutter erzählt vom Berlin der dreißiger Jahre: Den Veteranenberg aufwärts über den Zionskirchplatz kommt man zur Kastanienallee, eine stille Straße mit dicken alten Bäumen. Die Häuser sind mit Stuck verziert und mit kleinen Figuren; die Balkons wölben verschlungene Eisengitter im Bogen nach vorn. Kleine Geschäfte und Kellerläden zeigen ihre Waren. Wäschereien und Gardinenspannereien lassen die gebleichten Stücke auf der Straße trocknen. Auf den Höfen Pferdeställe, Hufe klappern auf dem Pflaster, und meine Mutter läuft durch die Einfahrt und guckt, wie gefüttert und getränkt wird. Der Geruch ist unverwechselbar: Kastanien, Tiere, Wäschedunst. Die Straßenbahn klingelt, Kutscher rufen, Spatzen streiten sich bei den „Pferdeäppeln“.

Meine Mutter ist mit ihrer Mutter unterwegs. Über die Kreuzung Schönhauser Allee in die Pappelallee, und dann ist es nicht mehr weit bis zur Stargarder Straße. Bevor sie rechts einbiegen, muß meine Mutter, ein kleines Mädchen, noch an der Ecke stehenbleiben. Über der Tür zum Jalousienladen von Castorf – der Enkelsohn leitete später die Volksbühne – befindet sich ein kleiner Bildschirm, und da laufen Zeichentrickfilme: Mickimaus, Bären, Clowns. Nachmittags um drei Uhr stehen hier immer Kindergruppen und starren nach oben.

Meine Ururgroßmutter, die verwitwet nach Berlin gegangen war, arbeitete bei einer reichen jüdischen Familie als Dienstmädchen. 1898 holte sie die 16jährige Auguste nach Berlin. Meine Uroma erzählte meiner Mutter vom Prenzlauer Berg, wo Mühlen standen, von der ersten Straßenbahn, die von Pferden gezogen wurde, von ihrer Fremdheit zwischen den hohen Häusern. Sie lernte einen richtigen Beruf: Weißnäherin. Stundenlang täglich stichelte und stickte und häkelte sie Spitzen und Hohlsäume. Die reichen Kundinnen waren anspruchsvoll und wehe, wenn ein Stückchen Batist verdorben war. Das ging vom Lohn ab, der sowieso kaum zum Leben reichte. Lange Kleider waren Mode, niemand ging ohne Hut auf die Straße. Und nicht das kleinste Stückchen vom Bein durfte zu sehen sein. Welch eine Erleichterung, als die Kleider knöchellang getragen wurden und der Saum nicht mehr nach jedem Ausgang mühsam gesäubert werden mußte. Meine Uroma nähte auch für meine Mutter und ihre Puppen, und später konnte meine Mutter meinem Teddybären Emil einen Anzug schneidern.

Den Jalousien-Laden von Castorf gibt es übrigens heute noch, er ist ein Haus weiter gezogen, und auf der Ecke ist jetzt ein Café eingerichtet für die vielen durstigen Gäste im heutigen Prenzlauer Berg.

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (3) Von Schieber bis Shimmy · 14. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Oh, wenn man erst mal auf die Spur kommt! Wer waren mein ältesten Berliner Vorfahren? Die Eltern meines Urgroßvaters Max: der Postbeamte Ludwig Gesing und Anna, geborene Bockfleisch. Es gibt niemanden mehr, der sich an sie erinnern könnte. Max Gesing heiratete anno 1903 Auguste Liesegang. Er war ein leidenschaftlicher Sänger und Tänzer. Als meine Mutter vier Jahre alt war, hatte ihr der Opa nicht nur Volkslieder beigebracht, sondern auch Gassenhauer und gängige Operettenmelodien. In der Küche übten sie die Modetänze vom Schieber bis zum Shimmy, und den Korridor chaussierten sie hin und zurück: in Rixdorf ist Musik!

Als ich klein war, zeigte mir meine Mutter, wie man Pferden Brot richtig gibt, in der flachen Hand. Das hat sie von ihrem Großvater, dem Fuhrunternehmer und späteren Postbeamten Max.

Weiter zurück: Die Mutter von Maxens Frau Auguste wurde 85 Jahre alt: Minna Liesegang, geborene Fleisch, Dienstmädchen, starb 1943 in Berlin. Meine Mutter erinnert sich gut: Den Veteranenberg herunter geht es ziemlich steil. Die eiserne Straßenbahn rollte langsam am Zionskirchplatz an, bremste schon nach ein paar Metern. Halt. Bremsen los, wieder anrollen. Halt. Und noch einmal. Endlich war sie unten. In der Brunnenstraße gingen meine Mutter und ihrer Mutter nach links. Wo sich heute Park mit Teich und Heine-Denkmal befinden, standen früher häßliche dunkle Häuser. Im zweiten von der Ecke aus besuchten sie Mutters Uroma Minna. Schräg gegenüber stand ein Wertheim-Kaufhaus. Heute Polizeirevier. Die Uroma wohnte im zweiten Hinterhof, dritter Stock. Eine enge dunkle Treppe, Holzstufen knarren. Meine Mutter wurde hochgehoben und durfte den Klingelgriff drehen, eine Art Flügelschraube. Die Tür ging auf, und sie kamen direkt in die Küche. Im Herd flackerte ein Feuer und gab Wärme und Licht. Das schmale Fenster ließ nicht viel herein, Strom gab es in diesen Häusern 1936 noch nicht.

Am deutlichsten erinnert sich meine Mutter an dieses Herdfeuer und ihre Uroma, die ohne Scheu in die Flammen faßte. Sie war fast blind, und sie schien Zauberkraft zu besitzen. Gebannt sah meine Mutter zu, wie sie Holz nachlegte, das Feuer anregte oder beruhigte. Wasser wurde mit dem Eimer vom Treppenhaus geholt. Dort war auch der Ausguß.

Als meine Mutter klein war, kannte sie verschiedene Arten von Beleuchtung. Kerzen oder Petroleumlampe bei ihrer Uroma, Leuchtgas bei der Oma in der Stargarder Straße und Strom zu Hause in der Meyerheimstraße. Dort hab ich später Kohlen für meine Oma aus dem Keller geholt. Beim Bäcker Meyerheim- Ecke Kuglerstraße kaufe ich heute mein Brot.

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (2) Puppen putzen · 13. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Meine Mutter und ich treffen uns beim Juwelier. Den achteckigen Karneol von Arturs Ring hat meine Mutter aufbewahrt, als das Gold des Ringes für etwas dringliches benötigt wurde, den Ring lassen wir nun nachmachen. In meiner Werkstatt hängt über der Druckmaschine ein Foto, auf dem er ihn trägt. Wenn mein Opa wüßte, daß ich ihn jeden Tag sehe. Er ist gestorben, bevor ich seine Bekanntschaft machen konnte.

Mein Großvater Artur Bewer wurde 1897 in Skaticken in Ostpreußen geboren. Er mußte als 14jähriger auf dem Gut als Knecht arbeiten. 1914 wurde er eingezogen, zweimal verschüttet und gelangte 1918 nach Berlin, wo er gegen die November-Revolutionäre kämpfen sollte. In der Stadt sah er für sich die besseren Chancen als auf dem Lande und wurde Schutzpolizist.

Familie Bewer gehörte zu den Hugenotten, die von Friedrich II. in Ostpreußen angesiedelt wurden. Der Name wandelte sich bei jeder Heirat durch Fehler in den Kirchenbüchern, anfangs lautete er Bevére.

Meine Mutter weiß nicht, wie Artur meine Großmutter Frieda Gesing kennenlernte. Sein Revier war in der Gleimstraße, bestimmt ist er oft zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee Streife gelaufen und ist Frieda dort vielleicht begegnet, sie wohnte um die Ecke in der Stargarder Straße. In der Gethsemane-Kirche, sechs Minuten Fußweg von meiner Wohnung, wurden Frieda und Artur im Mai 1933 getraut, ein Jahr später meine Mutter getauft. Und 1989 ging ich in diese Kirche zu Protestversammlungen gegen den SED-Staat.

Friedas Mutter Auguste kam als Mädchen in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Berlin, geholt von ihrer Mutter, Minna Liesegang, geborene Fleisch, die aus dem Harz gekommen war, um Arbeit zu suchen. Als meine Urgroßmutter Auguste einundzwanzig war, 1903, heiratete sie Max Gesing. Das Paar wohnte in der Stargarder Straße, einer Querstraße der Schönhauser Allee, wo auch die Gethsemane-Kirche steht.

Meine Mutter erzählt mir, daß Anfang der vierziger Jahre an der Ecke Lychener und Stargarder Straße eine Kneipe war, wo sie als Kind Bier holen durfte. Knapp dreißig Jahre später holte sie mich täglich aus der Kinderkrippe: derselbe Laden, andere Säuglinge.

Max war Fuhrunternehmer und Pferdehändler. Damals gab es auch in der Stargarder Straße auf den Höfen Pferdeställe und Kuhställe. Meine Mutter kennt die Geschichten nur von ihrer Mutter: wie Max sonntags die „Puppen“ putzte, bis sie glänzten. In Mähne und Schwanz wurden Bänder geflochten, es wurde angespannt und die Familie ins Grüne kutschiert.

Der 1. Weltkrieg rottete die Pferde fast aus. Autos wurden modern. Urgroßvater Max saß nun als Postbeamter hinterm Schalter und schrieb mit seiner Schnörkelschrift in dicke Bücher. Seine Eltern waren die ersten Berliner meiner Familie und er der erste echte Berliner in meinem Stammbaum, geboren 1874.

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (1) Opa Artur · 12. Mai 2008

Vor einiger Zeit wurde dieses Blog gelobt, weil gelegentlich Geschichten erzählt werden. Die letzte erschien wohl zu Weihnachten, also wird es wieder einmal Zeit.

Ich habe vor einigen Jahren für die Berlin-Seite der Süddeutschen Zeitung (das Berlin-Ressort der SZ gibt es heute nicht mehr) eine Woche lang ein sogenanntes Tagebuch geschrieben. Es besteht aus fünf Teilen, und diese werden von heute an bis Freitag in einer leicht überarbeiteten Fassung hier nach“gedruckt”. FF – Viel Vergnügen!

In der Universitätsstadt Ithaca im Staat New York begegnete ich vor einigen Wochen Opa Artur, wie er in der Schönhauser Allee als Schutzmann vor dem Kino Colosseum Streife läuft. In jenem Colosseum hab ich als Kind sowjetische und Märchenfilme der DEFA gesehen und hatte ich 1981 Jugendweihe; heute ist es Multiplex, man hat den dahinterliegenden Stall von der Pferdebahn umgebaut, Spuren aber gelassen. In Ithaca legt mir Edith, die einst ostpreußische und jetzt amerikanische Cousine meiner Mutter, alte Fotos aus Berlin vor. „Onkel Artur ist von den Geschwistern der einzige, der in Deutschland blieb“, erklärt sie. Die andern: Käthe, Wilhelm und Erich, sind nach dem ersten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert. Gertrud mit ihrer Tochter Edith wurde in den Fünfzigern nachgeholt. „Käthe hat einen Holländer geheiratet, sie haben Tulpen gezüchtet in Kanada. Onkel Willi hatte in den Zwanzigern eine Tankstelle in Hamilton gepachtet“, sagt Edith. Ein gelbliches Foto wird gefunden. Wie ein Gemälde von Edward Hopper: Mein Urgroßonkel Willi lehnt an einer Esso-Zapfsäule, am hölzernen Laden Werbung für Coca-Cola und Wrigley’s Refreshing. Ich bin baff. Mein Klassenkamerad Thomas kriegte in unserer Schule in der Gleimstraße mal Ärger, weil er Hosenträger mit der USA-Fahne trug. Ich hätte direkt ein Naturrecht auf solche Hosenträger gehabt!

Die Gleimstraße, da lag in den Dreißigern auch das Polizeirevier, wo mein Großvater arbeitete. Ich bin während der ganzen Schulzeit täglich durch die Gleimstraße zur Schule gelaufen, ohne das zu wissen.

Wieder in Berlin, bastele ich mit Hilfe der Verwandtschaft meinen Stammbaum zusammen. Der Hutmacher Johann Schröder ist mein ältester Namensgeber, von ihm ist nichts weiter bekannt. Sein Enkel Hermann August wurde 1862 in Drengfurth geboren, in Masuren, und beschlug in seiner Schmiede in Kosuchen Pferde, betrieb eine kleine Kolonialwarenhandlung mit Ausschank und bewirtschaftete ein Stück Land. Hermann Augusts Sohn wurde mein Großvater Gustav Adolf, der war ein Sattlermeister. Mein Vater ist in Lötzen geboren und kam in den fünfziger Jahren nach Berlin. Ein masurischer Einwanderer. Als ich meine Werkstatt eröffnet hatte, freute er sich, daß es wieder einen Handwerker in der Familie gibt und erinnerte sich daran, daß vor mir sein Vater eine eigene Werkstatt hatte. Mein Vater war Journalist und arbeitete bei einem Wochenmagazin.

Wie Vaters Großeltern (Hermann August Schröder und Auguste Schröder, geb. Korpiun) starben, wissen wir nicht, sie sind während der Vertreibung ohne ihre Angehörigen untergegangen. Vaters Familie hat sich nach der Flucht aus Ostpreußen im Harz angesiedelt.

Opa Artur, dem ich so unerwartet in Amerika begegnete, war auch ein ostpreußischer Einwanderer, allerdings von mütterlicher Seite. Meine Mutter hat mehr Berliner Vorfahren als mein Vater. Von denen muß sie mir morgen erzählen.

— Martin Z. Schröder

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Der begabte Jüngling · 25. Dezember 2007

Eines sonnigen Tages betrat ein sehr junger Mann meine Druckwerkstatt, deren Tür einladend offen stand. Er grüßte und fing an herumzudrucksen. Erzählte etwas wirr, daß er Maler sei und auf der benachbarten Baustelle arbeite und ob ich, nun ja, es wäre ihm unangenehm, aber die Lage zwinge ihn, ähem, mich zu fragen, und es würde ihm nicht leicht fallen, aber – ja, was denn nun? Also, sein Chef komme erst nachmittags auf die Baustelle, er müsse aber Farbe einkaufen für die Firma.

Ich fragte mich, was er wohl von mir wollen würde. Für ein paar Stunden zwei Farbeimer unterstellen? Ich ermunterte ihn, denn ich hatte viel zu tun und wollte keine Zeit vergeuden.

Er druckste weiter und näherte sich seinem Anliegen. Ihm fehle das Geld, er benötige 28,50 Euro. Es sei nicht seine Art …

„Ich soll Ihnen Geld leihen?“

„Ist mir wirklich unangenehm, danach zu fragen.“

„Ich kenne Sie doch gar nicht.“

„Ich schreibe Ihnen natürlich einen Schuldschein.“

„Hm.“

„Und ich geb’ Ihnen dann auch fünf Euro mehr zurück.“

„Nicht nötig.“

„Ich werde Ihnen selbstverständlich eine Kopie von meinem Personalausweis … Sie haben doch einen Kopierer?“ Suchend schaute er sich um.

„Nein.“

„Also dalassen kann ich ihn nicht, kann ja sein, ich werd’ unterwegs kontrolliert.“

„Ja, sicher.“

„Ist hier ein Copy-Shop in der Nähe?“

„Nein.“

„Also mein Chef kommt um drei oder spätestens halb vier …“

„Na gut, könn’ wir schon machen. Handwerker müssen sich helfen.“

„Das ist echt nett von Ihnen.“

Ich war geschmeichelt. Ich versuche immer, nett zu sein. Man erntet Dankbarkeit. Ich griff Papier und Stift und setzte mich nieder.

„Wie schreibt man denn einen Schuldschein? So’n Geschäft hab ich noch nie gemacht. Moment, hab ich überhaupt Geld dabei? Mal gucken. Ja, paßt, genau 30 Euro.“

„Na, schreiben Sie doch: Hiermit leihe ich mir 30 Euro, und dann unterschreib ich.“

„Na klar, nachher zerreiße ich den Zettel sowieso. Geben Sie mir mal Ihren Ausweis.“

„Bitte. Ach, die Adresse stimmt nicht mehr. Ich sag Ihnen die neue.“

Während ich schrieb, schaute er sich um.

„Ist das hier ‘ne alte Druckplatte?“

„Das ist eine Tiegeldruckpresse von 1900.“

„Toll!“

„Nicht wahr? So, wenn Sie hier unterschreiben …“

Der junge Mann signierte und beteuerte erneut, wie ihm die Angelegenheit erstens unangenehm sei und wie pünktlich er zweitens das Geld am Nachmittag zurückgeben werde. Er bedankte sich sehr und hinterließ in mir das Gefühl, einem kleinen Gewerbebetrieb wie meinem hilfreich unter die Arme gegriffen zu haben, auf daß dem Geschäftsgang des Malerbetriebes keine Steine im Wege liegen.

Bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal um.
„Gibt es denn den Farbenladen an der Vinetastraße noch?“

„Keine Ahnung, ist nicht meine Gegend.“

„Na, guck ich mal. Bis nachher.“

Netter junger Mann, dachte ich, und ich dachte auch an meine ein Jahrzehnt zurückliegende Arbeit als Pädagoge im Jugendgefängnis. Daran hatte ich lange nicht gedacht. Dann dachte ich nicht mehr an den Jüngling, sondern machte mich wieder ohne zeitraubendes Denken an die Arbeit.

Nach der Mittagspause daheim mit einem Mahl und einem Nickerchen betrat ich als zufriedener Mann, der sich mit sich selbst und der Welt im Reinen glaubt, kurz vor 15 Uhr die Werkstatt. Der junge Mann würde gleich kommen. Ich stellte mich an die Maschine und fing mit der Arbeit an.

Um 15.10 Uhr registrierte ich, daß sich der Jüngling verspätete. Mir fiel aber auch ein, daß er gesagt hatte, er käme spätestens um halb vier.

Um 15.15 Uhr kam ich zu der Auffassung, der junge Mann sei gewiß ein Lehrling, und wer heutzutage Lehrlinge einstellt, kann sich die zuverlässigsten jungen Menschen aussuchen.

Um 15.20 Uhr begann ich, an dem Malermeister zu zweifeln.

Um 15.23 Uhr wußte ich plötzlich, daß der charmante junge Mann nie wieder meinen Laden betreten würde. Später Instinkt. Ich hatte nicht grundlos nach so langer Zeit an meine vitalen Klienten im Jugendgefängnis gedacht.

Mir wurden vielmehr einige Gründe klar, warum ich gegen das Ansinnen dieses Knaben mißtrauisch hätte werden sollen. Befanden sich auf der Baustelle nicht viele Arbeiter, die ich täglich an meinem Laden vorbeigehen sah, wenn sie auf dem Wege zum Bäcker waren? Hatten die nicht alle Geld in den Taschen?

Ich ließ die Maschine stehen, mußte mich setzen.

Erst bittet er um genau 28,50 Euro, dann fragt er mich nach einem Geschäftslokal. Es gibt keine Farbenpreisbindung, er hätte den Preis nicht wissen können dürfen.

Oder: Was befand sich in dem dünnen Mäppchen, das der Mann bei sich trug? Es war vermutlich leer und sollte ihm nur einen geschäftsmäßigen Anstrich geben.

Oder: War er nicht zu sauber gekleidet und waren seine Hände nicht zu reinlich, um ein Maler auf einer Baustelle zu sein?

Oder: Warum hatte ich mich nicht nach der Firma erkundigt und dort Rückfrage gehalten? Die Erwähnung eines Meisters hatte meine Autoritätsgläubigkeit, auf die ich bislang gar nicht so viel hielt, die nun aber sichtbar wurde, genährt und ihm den Rücken gestärkt.

Oder: Hatte ich nicht erst gestern die Maler gesehen, wie sie der frisch verputzten Fassade einen elfenbeinernen Anstrich gaben?
Widersprüchliche Gefühle brodelten in mir. Zorn über den Betrug. Bewunderung für das Talent des Jungen. Ärger über mich selbst und meine Gutgläubigkeit.

Ich hatte Foto und Unterschrift auf dem vermutlich gefundenen oder gestohlenen Ausweis nicht verglichen. Sehr geschickt hatte er mich in die Problemlösung mit der Ausweiskopie einbezogen, bevor ich eine Entscheidung getroffen hatte. Er hatte mir die Entscheidung abgenommen. Er hatte eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, nämlich daß er Geld von mir bekommen könne, in mich eingepflanzt und mir durch seine Redegewandtheit keine Zeit gelassen und Gelegenheit gegeben, über sein Begehr nachzudenken und die Wurzeln dieses Krautes anzunagen. Er erntete rasch.

Aber ich bin Fatalist. Ich glaube an die ausgleichende Gerechtigkeit. Wenn sich kürzlich zwei Lieferanten in ihren Rechnungen zu meinen Gunsten geirrt hatten und ich den kleinen Vorteil schweigend eingesteckt, dann war das der Vorlauf dazu, diesem jungen Mann auf den Leim zu gehen.

Gegen Betrüger ist man wehrlos, wenn man ein Herz hat und nicht Mißtrauen und Skepsis gegen die Mitmenschen das Handeln bestimmen. Ich würde auf denselben Betrug nicht wieder hereinfallen, aber auf einen anderen, ebenso geschickten. Ich gedenke nicht, mein Herz für 30 Euro mit Eisenplatten zu vernageln.

Ich stellte mich wieder an die Maschine und grübelte beim Drucken weiter. Was hätte ich schließlich davon, zur Polizei zu laufen? Für 30 Euro wird kein Staatsanwalt seine teure Arbeitszeit aufwenden. Wegen Geringfügigkeit würde man das Verfahren einstellen.

Und selbst wenn der junge Mann vieler solcher Betrügereien überführt würde: Möchte ich im Gerichtssaal als ein Schafbock in der Herde trotteliger Zeugen meckern?

Welch einen Aufwand zu betreiben und mich auf Unbequemlichkeiten einzulassen ich gezwungen wäre: Formulare und Einlassungen auf dem Polizeirevier. Die Kommissare würden sich amüsieren über den improvisierten Schuldschein und meine Leichtgläubigkeit.

„Bei Geld müssen doch die Alarmglocken läuten, Herr! Gerade Sie als Unternehmer!“

Der Unternehmer errötet und schweigt.

Vorladung zu Gericht. Fahrt zum Amtsgericht. Durchsuchung am Eingang. Warten vor der Tür. Vorwurfsvolle Fragen vom Gericht. Angaben zum Verdienstausfall. Vorlage der Fahrscheine. Warten in der Schlange an der Gerichtskasse. Formulare unterschreiben für den Ausgleich des Verdienstausfalls und der U-Bahn-Tickets. Fahrt zurück.

Und um die 30 Euro zurückzuerhalten, müßte ich wohl ein Zivilgerichtsverfahren anstrengen. Am Ende würde sich herausstellen: Der junge Mann pleite und die Sozialhilfe nicht pfändbar. Oder er wäre verschwunden. Auf den Gerichtskosten bliebe ich sitzen.

Und selbst wenn der kleine Gauner überführt würde: Ich habe gesehen, daß sich im Gefängnis niemand bessern kann. Die meisten Leute sitzen wegen Eigentumsdelikten in unseren Justizvollzugsanstalten. Die meisten macht das Gefängnis rückfällig.

Hätte ich eine Idee, diesen vitalen jungen Mann zu bessern? Von Abschreckung kann wohl keine Rede sein, wenn man sich den Platzmangel in den Haftanstalten anschaut. Ich habe im Gefängnis schließlich gesehen, wie wenig lebenstüchtig diese Jugendlichen sind.

Welche Sicht auf die Menschen hat so ein Betrüger? Sieht er andere nur als potentielle Opfer, deren Geld sich zu bemächtigen er alle seine Fähigkeiten anstrengt? Kann so einer Vertrauen in andere Menschen haben, wenn er vom Trick und vom Vertrauensbruch sich nährt? Wie einsam ist so einer?

Als Pädagoge im Gefängnis war mein Hauptargument in den Gesprächen mit den jungen Rechtsbrechern, daß sie nicht geschickt genug wären für Diebstahl und Betrug. Ihnen mit Moral zu kommen, schien mir keinen Sinn zu ergeben. Ich wollte mit ihnen so reden wie mit intelligenten Menschen, denen man die mangelnden Erfolgsaussichten einer Geschäftsidee vor Augen führt. Die Gitter vor den Fenstern waren nicht wegzudiskutieren.

Hätte ich solche Einwendungen gegen den jungen Mann vorbringen können? Seine Erfolgsquote ist sicherlich hoch. Denn der Betrag wird vielen Leuten wie mir zu klein sein und der Vorgang zu peinlich, um den Rechtsstaat zu bemühen.

Ich betrachtete die Unterschrift auf dem 30 Euro teuren Wisch. Sie wirkte nicht wie die eines Handwerkerlehrlings; es war eine ausgeschriebene, fast elegante Schrift. Ich weiß gute Handschriften zu schätzen. Man muß in allem den guten Kern suchen. Das Leben ist zu kurz, um für einen zwar nicht wirklich billigen, aber auch nicht überteuerten Scherz im Gram zu versinken und Sorgenfalten hervorzubringen. Meiner Stirn will ich noch eine Weile ihre Glätte bewahren. Ich habe 30 Euro für ein Kabinettstück bezahlt. Gern würde ich dem jungen Mann Beifall spenden. Gern würde ich seine Geschichten hören, denn er hat gewiß eine lange Routine und schon als Kind begonnen, seinen Weg in einer Welt zu finden, die, so muß es für ihn doch einst ausgesehen haben, betrogen werden will. Wie wird man ein Trickbetrüger? Wo sammelt ein Kind so viel Arglist auf, daß man später einen braven Handwerker über den Tisch ziehen kann?

Ich sehe den jungen Mann vor mir, allerdings nur schemenhaft. Wiedererkennen würde ich ihn nicht. Wie mag er als Kind seine Eltern, Lehrer, Nachbarn hintergangen haben? Welches Menschenbild hat sich ihm gezeigt, als es noch um Naschereien und Zensuren ging? Andererseits habe ich meinem Vater, wenn er mittags ruhte, Münzen aus der Jackentasche gemopst und bin keine Plage geworden. Ich hatte allerdings Skrupel und Angst vor der peinlichen Entdeckung meiner Habgier und stellte die Bereicherung von alleine ein.

Als ich meine fürsprechenden Überlegungen dem Freundeskreis darlegte, wurde mir höhnisch der Rücken beklopft und wurde ich auf den zufällig gerade vorbeischnorrenden Bettler im Biergarten hingewiesen, ob ich nicht gerade wieder Mitleid für eine geschädigte Kindheit und ein paar Euro übrig hätte, und im übrigen wäre man gerne bereit, sich die Getränke von mir zahlen zu lassen, man habe selbst als Kind, wenn man es nur ins rechte Licht rücke, darben und vor allem kein Bier trinken dürfen.

Immerhin, so wandte ich voller Optimismus ein, hätte mein Betrüger auch ein Gewaltverbrecher werden können. Ein Einbrecher, der mein Geschäft verwüstet aus Zorn, daß er keine Kasse vorfindet. Ein Räuber, der mich niederschlägt, zum Invaliden macht oder gar tötet.

„Gib doch eine Anzeige auf, daß du dich bei ihm bedanken willst, weil er dir kein Messer in den Bauch …“ – „Vielleicht braucht er noch ein weiteres Almosen auf dem schwierigen Pfad zum rechten Weg. Unbedingt solltest du ihm behilflich sein, so als menschenliebender Pädagogiker.“ – „Gibst du auch den Bettlern in der U-Bahn deine Scheine, wenn sie einem damit kommen, daß sie nicht wieder in den Knast wollten und nur eine milde Gabe sie vom schiefen Weg abbringen würde?“

„Euern Spott“, sag ich, „schenk ich euch. Mein Betrüger war nicht so einer. Der hatte Charme. Man sieht’s doch gern auf der Bühne, warum nicht sich von der eigenen Rolle abheben und die künstlerische Qualität des Coups schätzen? Hat er mich nicht mit behender Leichtigkeit dazu gebracht, meinen Part in seinem Stück zu geben? War er nicht Autor, Regisseur und Darsteller in einem und in allen drei Obliegenheiten meisterlich? Und schließlich, bitte, lacht nur, schließlich müßte ich ihm in der Tat danken, denn habe ich nicht an Einsicht in mich selbst gewonnen?“

So gab ich’s zurück in die feixenden Mienen meiner Freunde. Schließlich respektierten sie meine Methode, mit der Schmach fertig zu werden. „Das Leben“, erzählte ich ihnen und strich mir übers Kinn, „Kinder hört, was ich sage: Das Leben ist ein Strom, manchmal schwimmt man mit ihm, manchmal dagegen an. Wer den Malströmen entrinnt, sollte keine Klage führen, wenn er mal ein bißchen Wasser schluckt.“

„Wir trinken lieber Bier“, meinten die ehrlichen Freunde.

Und bei mir denk ich hoffnungsvoll bis heute: Was, wenn er nun morgen doch noch kommt? Vielleicht hat er die Adresse vergessen und muß mich erst finden?

Zuerst veröffentlicht in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung am 18. Juni 2005. Bis heute hat mir der Bursche das Geld nicht zurückgebracht. Ich übe mich in Geduld, vielleicht wartet er nur ein schönes Jubiläum ab und bringt mir den Betrag hochverzinst?

— Martin Z. Schröder

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