Meine Berliner Familie (4) Castorfs Kino
Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte
Meine Mutter erzählt vom Berlin der dreißiger Jahre: Den Veteranenberg aufwärts über den Zionskirchplatz kommt man zur Kastanienallee, eine stille Straße mit dicken alten Bäumen. Die Häuser sind mit Stuck verziert und mit kleinen Figuren; die Balkons wölben verschlungene Eisengitter im Bogen nach vorn. Kleine Geschäfte und Kellerläden zeigen ihre Waren. Wäschereien und Gardinenspannereien lassen die gebleichten Stücke auf der Straße trocknen. Auf den Höfen Pferdeställe, Hufe klappern auf dem Pflaster, und meine Mutter läuft durch die Einfahrt und guckt, wie gefüttert und getränkt wird. Der Geruch ist unverwechselbar: Kastanien, Tiere, Wäschedunst. Die Straßenbahn klingelt, Kutscher rufen, Spatzen streiten sich bei den „Pferdeäppeln“.
Meine Mutter ist mit ihrer Mutter unterwegs. Über die Kreuzung Schönhauser Allee in die Pappelallee, und dann ist es nicht mehr weit bis zur Stargarder Straße. Bevor sie rechts einbiegen, muß meine Mutter, ein kleines Mädchen, noch an der Ecke stehenbleiben. Über der Tür zum Jalousienladen von Castorf – der Enkelsohn leitete später die Volksbühne – befindet sich ein kleiner Bildschirm, und da laufen Zeichentrickfilme: Mickimaus, Bären, Clowns. Nachmittags um drei Uhr stehen hier immer Kindergruppen und starren nach oben.
Meine Ururgroßmutter, die verwitwet nach Berlin gegangen war, arbeitete bei einer reichen jüdischen Familie als Dienstmädchen. 1898 holte sie die 16jährige Auguste nach Berlin. Meine Uroma erzählte meiner Mutter vom Prenzlauer Berg, wo Mühlen standen, von der ersten Straßenbahn, die von Pferden gezogen wurde, von ihrer Fremdheit zwischen den hohen Häusern. Sie lernte einen richtigen Beruf: Weißnäherin. Stundenlang täglich stichelte und stickte und häkelte sie Spitzen und Hohlsäume. Die reichen Kundinnen waren anspruchsvoll und wehe, wenn ein Stückchen Batist verdorben war. Das ging vom Lohn ab, der sowieso kaum zum Leben reichte. Lange Kleider waren Mode, niemand ging ohne Hut auf die Straße. Und nicht das kleinste Stückchen vom Bein durfte zu sehen sein. Welch eine Erleichterung, als die Kleider knöchellang getragen wurden und der Saum nicht mehr nach jedem Ausgang mühsam gesäubert werden mußte. Meine Uroma nähte auch für meine Mutter und ihre Puppen, und später konnte meine Mutter meinem Teddybären Emil einen Anzug schneidern.
Den Jalousien-Laden von Castorf gibt es übrigens heute noch, er ist ein Haus weiter gezogen, und auf der Ecke ist jetzt ein Café eingerichtet für die vielen durstigen Gäste im heutigen Prenzlauer Berg.
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