Meine Berliner Familie (5 und Schluß) Wer ist hier Berliner?
Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte
Wer darf sich echter Berliner heißen? Mein Vater ist aus Masuren hierher eingewandert. Die Vorfahren seiner Mutter stammen aus Elchniederung im Norden Ostpreußens, an der Grenze zu Litauen, die seines Vaters ebenfalls aus Masuren. Woher unser Namensgeber Schröder kommt, wissen wir nicht, gerüchteweise ist von den Salzburger Protestanten die Rede. Und eine ganze Generation ist durch die Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg verschollen, im Stammbaum fehlen von vier Personen die Sterbedaten, zwei weitere starben auf der Flucht im Greisenalter in der Fremde.
Der Geburtsname meiner Mutter, Bewer, verrät einen Strang hin zu den Hugenotten, die in Ostpreußen angesiedelt wurden. Die Familien meiner Eltern lebten gar nicht so weit voneinander entfernt, vielleicht kannte man sich sogar. Ein anderer Strang endet bei Ludwig Gesing, 1839 in Potsdam geboren, und Anna Bockfleisch, 1840 in Salzwedel bei Stendal geboren. Diese beiden, Ludwig und Anna, sind meine ältesten Berliner Vorfahren, die Enkelin der beiden war meine Großmutter Frieda, die geduldig meine Detektivspiele mitmachte und von der ich lernte, wie man beim Mensch-ärgere-dich-nicht schummelt.
In meinem Freundes- und Bekanntenkreis bin ich mit meiner Seßhaftigkeit ein kleines Faktotum, schon die Ururgroßeltern wohnten unweit meiner Wohnung. Zieh doch endlich mal um, werde ich angemault. Ich bin durch dieselben Straßen gegangen wie drei Generationen vor mir. Das ist in Berlin seltener geworden. Eine Großstadt lebt vom Zuzug, von der Bewegung. Viele Berliner waren Vertriebene und Angesiedelte. Wenn ich sage, daß ich ein Deutscher bin, ist das nur ein Teil der Wahrheit. In mir stecken Franzosen, Österreicher und gewissermaßen Polen. Und das ist ja nur ein kleiner Teil der ganzen Geschichte, nur knapp 200 Jahre.
Heute sind Deutsche auch Italiener, Griechen, Türken, Libanesen, Russen und aus vielen anderen Ländern zugezogene Leute, meiner Familie ist sogar ein afrikanischer Wurzelstrang im Stammbaum zugewachsen. Seit ich diese Wurzeln sehe, fühle ich mich den Fremden, die rasch Berliner werden, näher.
Eben lese ich die Berliner Kindheitserinnerungen von Rudolf Borchardt aus den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als auch seine Vorfahren nach Berlin einwanderten. Ich schreibe eine E-Mail nach Ithaca und erzähle von der Lektüre, weil Borchardt ostpreußische Wurzeln hat wie die amerikanische Cousine meiner Mutter, bei der ich vor einigen Wochen auf Fotos meinem Opa Artur vor meinem Kindheitskino in der Schönhauser Allee begegnet war. Einen Tag später die Antwort: In der großen und schönen Bibliothek der berühmten Cornell-University, die ich mir bei meinem Besuch angesehen und die ich rundum bewundert habe, findet sich die Ausgabe der Maximilian-Gesellschaft Hamburg von 1966. Wie mag dieser Privatdruck nach Ithaca im Staat New York gekommen sein? Alles fließt.
Schluß
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