Meine Berliner Familie (5 und Schluß) Wer ist hier Berliner? · 16. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Wer darf sich echter Berliner heißen? Mein Vater ist aus Masuren hierher eingewandert. Die Vorfahren seiner Mutter stammen aus Elchniederung im Norden Ostpreußens, an der Grenze zu Litauen, die seines Vaters ebenfalls aus Masuren. Woher unser Namensgeber Schröder kommt, wissen wir nicht, gerüchteweise ist von den Salzburger Protestanten die Rede. Und eine ganze Generation ist durch die Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg verschollen, im Stammbaum fehlen von vier Personen die Sterbedaten, zwei weitere starben auf der Flucht im Greisenalter in der Fremde.

Der Geburtsname meiner Mutter, Bewer, verrät einen Strang hin zu den Hugenotten, die in Ostpreußen angesiedelt wurden. Die Familien meiner Eltern lebten gar nicht so weit voneinander entfernt, vielleicht kannte man sich sogar. Ein anderer Strang endet bei Ludwig Gesing, 1839 in Potsdam geboren, und Anna Bockfleisch, 1840 in Salzwedel bei Stendal geboren. Diese beiden, Ludwig und Anna, sind meine ältesten Berliner Vorfahren, die Enkelin der beiden war meine Großmutter Frieda, die geduldig meine Detektivspiele mitmachte und von der ich lernte, wie man beim Mensch-ärgere-dich-nicht schummelt.

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis bin ich mit meiner Seßhaftigkeit ein kleines Faktotum, schon die Ururgroßeltern wohnten unweit meiner Wohnung. Zieh doch endlich mal um, werde ich angemault. Ich bin durch dieselben Straßen gegangen wie drei Generationen vor mir. Das ist in Berlin seltener geworden. Eine Großstadt lebt vom Zuzug, von der Bewegung. Viele Berliner waren Vertriebene und Angesiedelte. Wenn ich sage, daß ich ein Deutscher bin, ist das nur ein Teil der Wahrheit. In mir stecken Franzosen, Österreicher und gewissermaßen Polen. Und das ist ja nur ein kleiner Teil der ganzen Geschichte, nur knapp 200 Jahre.

Heute sind Deutsche auch Italiener, Griechen, Türken, Libanesen, Russen und aus vielen anderen Ländern zugezogene Leute, meiner Familie ist sogar ein afrikanischer Wurzelstrang im Stammbaum zugewachsen. Seit ich diese Wurzeln sehe, fühle ich mich den Fremden, die rasch Berliner werden, näher.

Eben lese ich die Berliner Kindheitserinnerungen von Rudolf Borchardt aus den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als auch seine Vorfahren nach Berlin einwanderten. Ich schreibe eine E-Mail nach Ithaca und erzähle von der Lektüre, weil Borchardt ostpreußische Wurzeln hat wie die amerikanische Cousine meiner Mutter, bei der ich vor einigen Wochen auf Fotos meinem Opa Artur vor meinem Kindheitskino in der Schönhauser Allee begegnet war. Einen Tag später die Antwort: In der großen und schönen Bibliothek der berühmten Cornell-University, die ich mir bei meinem Besuch angesehen und die ich rundum bewundert habe, findet sich die Ausgabe der Maximilian-Gesellschaft Hamburg von 1966. Wie mag dieser Privatdruck nach Ithaca im Staat New York gekommen sein? Alles fließt.

Schluß

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (4) Castorfs Kino · 15. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Meine Mutter erzählt vom Berlin der dreißiger Jahre: Den Veteranenberg aufwärts über den Zionskirchplatz kommt man zur Kastanienallee, eine stille Straße mit dicken alten Bäumen. Die Häuser sind mit Stuck verziert und mit kleinen Figuren; die Balkons wölben verschlungene Eisengitter im Bogen nach vorn. Kleine Geschäfte und Kellerläden zeigen ihre Waren. Wäschereien und Gardinenspannereien lassen die gebleichten Stücke auf der Straße trocknen. Auf den Höfen Pferdeställe, Hufe klappern auf dem Pflaster, und meine Mutter läuft durch die Einfahrt und guckt, wie gefüttert und getränkt wird. Der Geruch ist unverwechselbar: Kastanien, Tiere, Wäschedunst. Die Straßenbahn klingelt, Kutscher rufen, Spatzen streiten sich bei den „Pferdeäppeln“.

Meine Mutter ist mit ihrer Mutter unterwegs. Über die Kreuzung Schönhauser Allee in die Pappelallee, und dann ist es nicht mehr weit bis zur Stargarder Straße. Bevor sie rechts einbiegen, muß meine Mutter, ein kleines Mädchen, noch an der Ecke stehenbleiben. Über der Tür zum Jalousienladen von Castorf – der Enkelsohn leitete später die Volksbühne – befindet sich ein kleiner Bildschirm, und da laufen Zeichentrickfilme: Mickimaus, Bären, Clowns. Nachmittags um drei Uhr stehen hier immer Kindergruppen und starren nach oben.

Meine Ururgroßmutter, die verwitwet nach Berlin gegangen war, arbeitete bei einer reichen jüdischen Familie als Dienstmädchen. 1898 holte sie die 16jährige Auguste nach Berlin. Meine Uroma erzählte meiner Mutter vom Prenzlauer Berg, wo Mühlen standen, von der ersten Straßenbahn, die von Pferden gezogen wurde, von ihrer Fremdheit zwischen den hohen Häusern. Sie lernte einen richtigen Beruf: Weißnäherin. Stundenlang täglich stichelte und stickte und häkelte sie Spitzen und Hohlsäume. Die reichen Kundinnen waren anspruchsvoll und wehe, wenn ein Stückchen Batist verdorben war. Das ging vom Lohn ab, der sowieso kaum zum Leben reichte. Lange Kleider waren Mode, niemand ging ohne Hut auf die Straße. Und nicht das kleinste Stückchen vom Bein durfte zu sehen sein. Welch eine Erleichterung, als die Kleider knöchellang getragen wurden und der Saum nicht mehr nach jedem Ausgang mühsam gesäubert werden mußte. Meine Uroma nähte auch für meine Mutter und ihre Puppen, und später konnte meine Mutter meinem Teddybären Emil einen Anzug schneidern.

Den Jalousien-Laden von Castorf gibt es übrigens heute noch, er ist ein Haus weiter gezogen, und auf der Ecke ist jetzt ein Café eingerichtet für die vielen durstigen Gäste im heutigen Prenzlauer Berg.

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (3) Von Schieber bis Shimmy · 14. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Oh, wenn man erst mal auf die Spur kommt! Wer waren mein ältesten Berliner Vorfahren? Die Eltern meines Urgroßvaters Max: der Postbeamte Ludwig Gesing und Anna, geborene Bockfleisch. Es gibt niemanden mehr, der sich an sie erinnern könnte. Max Gesing heiratete anno 1903 Auguste Liesegang. Er war ein leidenschaftlicher Sänger und Tänzer. Als meine Mutter vier Jahre alt war, hatte ihr der Opa nicht nur Volkslieder beigebracht, sondern auch Gassenhauer und gängige Operettenmelodien. In der Küche übten sie die Modetänze vom Schieber bis zum Shimmy, und den Korridor chaussierten sie hin und zurück: in Rixdorf ist Musik!

Als ich klein war, zeigte mir meine Mutter, wie man Pferden Brot richtig gibt, in der flachen Hand. Das hat sie von ihrem Großvater, dem Fuhrunternehmer und späteren Postbeamten Max.

Weiter zurück: Die Mutter von Maxens Frau Auguste wurde 85 Jahre alt: Minna Liesegang, geborene Fleisch, Dienstmädchen, starb 1943 in Berlin. Meine Mutter erinnert sich gut: Den Veteranenberg herunter geht es ziemlich steil. Die eiserne Straßenbahn rollte langsam am Zionskirchplatz an, bremste schon nach ein paar Metern. Halt. Bremsen los, wieder anrollen. Halt. Und noch einmal. Endlich war sie unten. In der Brunnenstraße gingen meine Mutter und ihrer Mutter nach links. Wo sich heute Park mit Teich und Heine-Denkmal befinden, standen früher häßliche dunkle Häuser. Im zweiten von der Ecke aus besuchten sie Mutters Uroma Minna. Schräg gegenüber stand ein Wertheim-Kaufhaus. Heute Polizeirevier. Die Uroma wohnte im zweiten Hinterhof, dritter Stock. Eine enge dunkle Treppe, Holzstufen knarren. Meine Mutter wurde hochgehoben und durfte den Klingelgriff drehen, eine Art Flügelschraube. Die Tür ging auf, und sie kamen direkt in die Küche. Im Herd flackerte ein Feuer und gab Wärme und Licht. Das schmale Fenster ließ nicht viel herein, Strom gab es in diesen Häusern 1936 noch nicht.

Am deutlichsten erinnert sich meine Mutter an dieses Herdfeuer und ihre Uroma, die ohne Scheu in die Flammen faßte. Sie war fast blind, und sie schien Zauberkraft zu besitzen. Gebannt sah meine Mutter zu, wie sie Holz nachlegte, das Feuer anregte oder beruhigte. Wasser wurde mit dem Eimer vom Treppenhaus geholt. Dort war auch der Ausguß.

Als meine Mutter klein war, kannte sie verschiedene Arten von Beleuchtung. Kerzen oder Petroleumlampe bei ihrer Uroma, Leuchtgas bei der Oma in der Stargarder Straße und Strom zu Hause in der Meyerheimstraße. Dort hab ich später Kohlen für meine Oma aus dem Keller geholt. Beim Bäcker Meyerheim- Ecke Kuglerstraße kaufe ich heute mein Brot.

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (2) Puppen putzen · 13. Mai 2008

Fortsetzung der Berliner Familiengeschichte

Meine Mutter und ich treffen uns beim Juwelier. Den achteckigen Karneol von Arturs Ring hat meine Mutter aufbewahrt, als das Gold des Ringes für etwas dringliches benötigt wurde, den Ring lassen wir nun nachmachen. In meiner Werkstatt hängt über der Druckmaschine ein Foto, auf dem er ihn trägt. Wenn mein Opa wüßte, daß ich ihn jeden Tag sehe. Er ist gestorben, bevor ich seine Bekanntschaft machen konnte.

Mein Großvater Artur Bewer wurde 1897 in Skaticken in Ostpreußen geboren. Er mußte als 14jähriger auf dem Gut als Knecht arbeiten. 1914 wurde er eingezogen, zweimal verschüttet und gelangte 1918 nach Berlin, wo er gegen die November-Revolutionäre kämpfen sollte. In der Stadt sah er für sich die besseren Chancen als auf dem Lande und wurde Schutzpolizist.

Familie Bewer gehörte zu den Hugenotten, die von Friedrich II. in Ostpreußen angesiedelt wurden. Der Name wandelte sich bei jeder Heirat durch Fehler in den Kirchenbüchern, anfangs lautete er Bevére.

Meine Mutter weiß nicht, wie Artur meine Großmutter Frieda Gesing kennenlernte. Sein Revier war in der Gleimstraße, bestimmt ist er oft zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee Streife gelaufen und ist Frieda dort vielleicht begegnet, sie wohnte um die Ecke in der Stargarder Straße. In der Gethsemane-Kirche, sechs Minuten Fußweg von meiner Wohnung, wurden Frieda und Artur im Mai 1933 getraut, ein Jahr später meine Mutter getauft. Und 1989 ging ich in diese Kirche zu Protestversammlungen gegen den SED-Staat.

Friedas Mutter Auguste kam als Mädchen in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Berlin, geholt von ihrer Mutter, Minna Liesegang, geborene Fleisch, die aus dem Harz gekommen war, um Arbeit zu suchen. Als meine Urgroßmutter Auguste einundzwanzig war, 1903, heiratete sie Max Gesing. Das Paar wohnte in der Stargarder Straße, einer Querstraße der Schönhauser Allee, wo auch die Gethsemane-Kirche steht.

Meine Mutter erzählt mir, daß Anfang der vierziger Jahre an der Ecke Lychener und Stargarder Straße eine Kneipe war, wo sie als Kind Bier holen durfte. Knapp dreißig Jahre später holte sie mich täglich aus der Kinderkrippe: derselbe Laden, andere Säuglinge.

Max war Fuhrunternehmer und Pferdehändler. Damals gab es auch in der Stargarder Straße auf den Höfen Pferdeställe und Kuhställe. Meine Mutter kennt die Geschichten nur von ihrer Mutter: wie Max sonntags die „Puppen“ putzte, bis sie glänzten. In Mähne und Schwanz wurden Bänder geflochten, es wurde angespannt und die Familie ins Grüne kutschiert.

Der 1. Weltkrieg rottete die Pferde fast aus. Autos wurden modern. Urgroßvater Max saß nun als Postbeamter hinterm Schalter und schrieb mit seiner Schnörkelschrift in dicke Bücher. Seine Eltern waren die ersten Berliner meiner Familie und er der erste echte Berliner in meinem Stammbaum, geboren 1874.

— Martin Z. Schröder

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Meine Berliner Familie (1) Opa Artur · 12. Mai 2008

Vor einiger Zeit wurde dieses Blog gelobt, weil gelegentlich Geschichten erzählt werden. Die letzte erschien wohl zu Weihnachten, also wird es wieder einmal Zeit.

Ich habe vor einigen Jahren für die Berlin-Seite der Süddeutschen Zeitung (das Berlin-Ressort der SZ gibt es heute nicht mehr) eine Woche lang ein sogenanntes Tagebuch geschrieben. Es besteht aus fünf Teilen, und diese werden von heute an bis Freitag in einer leicht überarbeiteten Fassung hier nach“gedruckt”. FF – Viel Vergnügen!

In der Universitätsstadt Ithaca im Staat New York begegnete ich vor einigen Wochen Opa Artur, wie er in der Schönhauser Allee als Schutzmann vor dem Kino Colosseum Streife läuft. In jenem Colosseum hab ich als Kind sowjetische und Märchenfilme der DEFA gesehen und hatte ich 1981 Jugendweihe; heute ist es Multiplex, man hat den dahinterliegenden Stall von der Pferdebahn umgebaut, Spuren aber gelassen. In Ithaca legt mir Edith, die einst ostpreußische und jetzt amerikanische Cousine meiner Mutter, alte Fotos aus Berlin vor. „Onkel Artur ist von den Geschwistern der einzige, der in Deutschland blieb“, erklärt sie. Die andern: Käthe, Wilhelm und Erich, sind nach dem ersten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert. Gertrud mit ihrer Tochter Edith wurde in den Fünfzigern nachgeholt. „Käthe hat einen Holländer geheiratet, sie haben Tulpen gezüchtet in Kanada. Onkel Willi hatte in den Zwanzigern eine Tankstelle in Hamilton gepachtet“, sagt Edith. Ein gelbliches Foto wird gefunden. Wie ein Gemälde von Edward Hopper: Mein Urgroßonkel Willi lehnt an einer Esso-Zapfsäule, am hölzernen Laden Werbung für Coca-Cola und Wrigley’s Refreshing. Ich bin baff. Mein Klassenkamerad Thomas kriegte in unserer Schule in der Gleimstraße mal Ärger, weil er Hosenträger mit der USA-Fahne trug. Ich hätte direkt ein Naturrecht auf solche Hosenträger gehabt!

Die Gleimstraße, da lag in den Dreißigern auch das Polizeirevier, wo mein Großvater arbeitete. Ich bin während der ganzen Schulzeit täglich durch die Gleimstraße zur Schule gelaufen, ohne das zu wissen.

Wieder in Berlin, bastele ich mit Hilfe der Verwandtschaft meinen Stammbaum zusammen. Der Hutmacher Johann Schröder ist mein ältester Namensgeber, von ihm ist nichts weiter bekannt. Sein Enkel Hermann August wurde 1862 in Drengfurth geboren, in Masuren, und beschlug in seiner Schmiede in Kosuchen Pferde, betrieb eine kleine Kolonialwarenhandlung mit Ausschank und bewirtschaftete ein Stück Land. Hermann Augusts Sohn wurde mein Großvater Gustav Adolf, der war ein Sattlermeister. Mein Vater ist in Lötzen geboren und kam in den fünfziger Jahren nach Berlin. Ein masurischer Einwanderer. Als ich meine Werkstatt eröffnet hatte, freute er sich, daß es wieder einen Handwerker in der Familie gibt und erinnerte sich daran, daß vor mir sein Vater eine eigene Werkstatt hatte. Mein Vater war Journalist und arbeitete bei einem Wochenmagazin.

Wie Vaters Großeltern (Hermann August Schröder und Auguste Schröder, geb. Korpiun) starben, wissen wir nicht, sie sind während der Vertreibung ohne ihre Angehörigen untergegangen. Vaters Familie hat sich nach der Flucht aus Ostpreußen im Harz angesiedelt.

Opa Artur, dem ich so unerwartet in Amerika begegnete, war auch ein ostpreußischer Einwanderer, allerdings von mütterlicher Seite. Meine Mutter hat mehr Berliner Vorfahren als mein Vater. Von denen muß sie mir morgen erzählen.

— Martin Z. Schröder

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Vorbeigänger · 6. November 2007

Als ich vor vier Jahren mit meiner Werkstatt in die Räume zog, in denen ich jetzt arbeite, hatte ich erstmals ständigen Sichtkontakt zur Straße. Anfangs fühlte ich mich beobachtet, zumal viele Leute in die Fenster schauten. Ich kam gar nicht auf die Idee, daß sie etwas anderes sehen könnten als mich, bis ich entdeckte, daß man bei Tageslicht gar nicht hineinschauen kann, weil die Fenster spiegeln. Da beobachtete ich die Passanten genauer und merkte, daß sie sich selbst betrachten: Manche Bewohner meiner Straße blicken routiniert in den Spiegel, bevor sie aus der Schonenschen Straße auf die belebte Schönhauser Allee treten: Frisuren werden geordnet, ein junger Vater schaut gern, wie ihm sein Säugling steht, den er vor die Brust gebunden trägt. Kleine Mädchen zupfen an ihrer Kleidung und große nesteln an der Sonnebrille. Halbwüchsige werfen unsichere Seitenblicke.

Wenn ich in der Jahreszeit, da es früh dunkelt, bei Licht arbeite, kann man mir allerdings auf die Finger schauen. Anfangs wurde ich etwas nervös, wenn ich merkte, daß Leute dicht ans Fenster traten und mir zuschauten. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.

Es ist interessant, wie man die Menschen kennenlernt nur durch Schauen. Mir sind viele Gesichter aus der Nachbarschaft inzwischen so vertraut, daß ich sie, begegne ich ihnen draußen auf der Straße, beinahe grüße. Aber sie kennen mich nicht so gut, und in der Großstadt ist das Grüßen Fremder unüblich. Es gibt Passanten, die kommen so pünktlich zur immergleichen Stunde, daß ich die Zeit daran ablesen kann. Und wenn mal ein regelmäßiger Vorbeigänger fehlt, fällt es mir auf.

Im Sommer, wenn die Tür weit offensteht, um die Wärme hineinzulassen, tönt manchmal das Rumpeln und Klappern meiner großen Maschine auf die Straße, dann bleiben gelegentlich Leute stehen und treten näher und schauen herein, so entwickeln sich doch Grüßbekanntschaften.

Seit vier Jahren arbeite ich dort, und so sehe ich auch werdende Mütter, glückliche Eltern und kleine Kinder die ersten Schritte machen – an ihnen merke ich, wie Jahre vergehen.

Das Foto zeigt neben der großen Haustür die kleine Tür ins Souterrain (man steigt ein paar Stufen hinab in die Offizin) und drei Fenster zur Straße. Zum Haus gehört ein Hofgarten, auf dem eine riesige Eiche, ein Walnußbaum und um eine Bank Sträucher stehen. Wenn mich der Autolärm vorne stört, sperre ich die Tür nach hinten auf. Vor dem Haus steht eine Beton-Straßenlaterne aus der DDR. Als mein großer Pedal-Tiegel (gebaut um 1900 von der Firma Emil Kahle, Leipzig-Paunsdorf) über die Stufen hinab sollte, schlangen wir das Seil für den Seilzug um diese ideal genau vor der Tür stehende Laterne.

Der Kontakt zur Außenwelt aus meiner Offizin beschränkt sich auf drei Ausgänge: zwei Türen und ein Telefon im alten Stil: mit Wählscheibe. Es gibt dort keinen Computer, die Offizin ist nicht online. Wer sie betritt, verläßt heute und kommt nach gestern. Manchmal versagt hinter den dicken Mauern sogar das Handy meiner Besucher.

— Martin Z. Schröder

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