Das breite und das schmale h
Gestern stolperte ich über ein Schriftpaket, das an einer Ecke zerfleddert war. Ein Versal A lag daneben. So etwas kann ich nicht dulden, also habe ich ausgepackt. Es handelt sich um eine Garamond kursiv in Korpus, also im Schriftgrad 10 Punkt. Dieses Paket kam vor Jahren aus der Schriftgießerei VEB Typoart, einem „Volkseigenen Betrieb“ der DDR. Die Garamond, eine von Herbert Thannhaeuser neuinterpretierte Renaissance-Antiqua, ist eine der sehr schönen Schriften, die von Typoart gegossen wurden. Über die an ihrem Ende sehr traurige Geschichte des Unternehmens Typoart hat Ingo Preuss hier Notizen hinterlegt. Nun, das Schriftpaket mußte, wie man auf den Fotos sieht, in der Tat schleunigst vor dem Zusammenfall gerettet werden.
So kleine Schrift einzulegen, das ist anstrengend für die Augen. Man muß die Typen lesen, aber da sie noch nie Farbe am Leibe hatten, ist das helle Blei blitzeblank und blendet. Dann eine Ligatur ffl von einer Ligatur ffi zu unterscheiden (Foto) kostet Augenmuskelkraft. Das Foto mit den beiden Ligaturen ist eine deutliche Vergrößerung, auf dem nächsten zeige ich eine Zeile zwischen meinen Fingern stecken, damit die Größe deutlich wird. Der Schriftgrad Korpus ist für Romane üblich.
Das den f-Ligaturen folgende Foto zeigt zwei ch-Ligaturen. Die kursive Garamond hat in verschiedenen Graden verschiedene Spezialitäten. Den kleinen Graden hat man ein h beigefügt, dessen Abstrich gerade heruntergeht und nicht nach innen in einen Tropfen ausläuft, damit man das h nicht mit einem b verwechselt. Als ich heute das Tropfen-h einlegen wollte, fiel mir auf, daß es etwas schlanker schien als die Lettern, die seit zehn Jahren im Kasten der kursiven Garamond liegen. Ich muß sagen, daß ich von meinem scharfen Blick selbst überrascht war. Man spürt den Unterschied mehr, als daß man ihn sieht. Das ist wohl eine Frucht der Erfahrung. Der Verdacht bestätigte sich, und ich wurde böse. Es ist schier unglaublich, daß eine Schriftgießerei heimlich neue Matrizen schneidet und alte und neue Güsse unter einem Namen verkauft, ohne auf den Unterschied hinzuweisen.
Ich habe die Schriften, die alte und die neue, geprüft. Alle anderen Buchstaben sind identisch. Aber die Schulterflächen, auf denen die Typen sitzen, zeigen andere Spuren. Das scheint zu bedeuten, daß es mehrere Matrizen für den Guß dieser Type gab. Ich kenne mich mit Schriftgießerei nicht aus, mir ist dieser Gedanke völlig neu. Matrizen halten ewig, dachte ich. Ich habe die beiden h in zwei Zeilen abgesetzt, oben die neue, unten die alte. Die neue Schrift ist deutlich schlanker. Wobei ich nicht wissen kann, wann welche gegossen wurde. Es kann auch sein, daß das breitere h nach dem schmaleren gegossen wurde.
Man kann nichts mehr reklamieren, die Firma Typoart gießt nicht mehr. Die Matrizen sind, so hörte ich, verschwunden. Also heißt es, pragmatisch zu denken. So hatte Gutenberg schließlich von vielen Buchstaben mehrere Varianten gegossen, weil er seine Satzschrift der Handschrift anpassen wollte und den Blocksatz erreichte nicht durch Veränderung der Wortzwischenräume, sondern durch Auswechseln verschieden breiter Typen. Ich habe die schmalen h im Setzkasten gesondert untergebracht und versuche, mich nicht zu ärgern. Ein Rätsel bleibt mir die Schrift aber doch: Warum ist das h so markant geändert worden?
Ich wurde gefragt, ob die Geschichte um die Buben aus der Nachbarschaft fortgesetzt wird. Die beiden Satansbraten haben mich nun schon zweimal versetzt. Nach dem ersten Mal haben sie sich zwei Tage später sehr entschuldigt und mir zugesagt, nächstes mal abzusagen, wenn sie nicht kommen könnten. Haben sie aber nicht. Ich habe von einer Freundin und Mutter gelernt, daß man Kinder gelegentlich wie Marsmenschen behandeln sollte. Also fragen, wenn einem etwas überaus merkwürdig vorkommt. Ich erinnere mich an den jungen Besuch letzten Sommer, der zum Frühstück Brötchen mit Butter mit Salami mit Marmelade vertilgte. Aber selbst bei Erwachsenen wäre ich in diesem doppelten Verabredungplatzenlassenfall mehr verwundert als beleidigt. Also ich werde nachfragen, wie sie es halten mit Verabredungen, wenn sie wieder hereinschauen, dann werde ich klüger sein.
Fotos vom Fortgang des Goldt-Büchleins demnächst wieder. Am Sonntag habe ich stundenlang einen langen Text gesetzt. Dramensatz …
tags: garamond, typoart
Veronika Elsner am 1. September 2008 # :
Sehr geehrter Herr Schröder,
danke für den interessanten Beitrag. Die Matrizen der Typoart Garamond befinden sich im Keller des Druckkunstmuseums in Leipzig. Wenn Sie Interesse haben, Mitglied im Förderverein zu werden, wenden Sie sich bitte an das Museum. Dort werden wir uns dann vielleicht mal treffen.
Mit freundlichen Grüßen
Veronika Elsner
MZS am 1. September 2008 # :
Sehr geehrte Frau Elsner, vielen Dank für Ihren freundlichen Hinweis! Einige Monate nach diesem Blog-Beitrag konnte ich berichten, daß die Matrizen gefunden wurden. Ich habe im Museum außerdem angeregt, die gegossenen Schmuckzeichen über einen Online-Museumsshop anzubieten, davon würde ich gern mehr kaufen. Gut, daß mir das nun wieder einfällt, ich werde mal in Leipzig nachfragen.