Ein »einfacher« Linienrahmen
Ob es heute wohl mehr Rahmen und Ränder in der Typografie gibt als in früheren Zeiten? Es ist leicht, mit einem Grafikprogramm einen Rahmen zu ziehen. Dauert nur ein paar Sekunden. Im alten Satzhandwerk ist es etwas langwieriger. Und es ist mit dem Satz nicht getan, auch der Drucker muß sich mit der Form gesondert befassen, weil die Linien meistens unterschiedlich stark abgenutzt sind und deshalb nicht ganz gleichmäßig ausdrucken.
So sieht ein einfacher Linienrahmen aus. Die Linie ist im Druckbild 1 Punkt stark, wurde aber mit 2-Punkt-Messinglinien gesetzt. Der Vorzug dieser dickeren Linien liegt in ihrer Handhabbarkeit. Der innere Rahmen, der für die Stabilität der Druckform und saubere Anschlüsse nötig ist, kann mit systematischem Material gesetzt werden, mit Blindmaterial in Cicero-Stärke. Die Druckform muß immer auf Cicero gebaut werden, am besten sogar auf Konkordanz, damit der Drucker die Form mit seinem groben Material schließen kann. Seine Schließzeuge gehen in der Länge auf Konkordanz aus. Für den Laien ist das schwer zu übersetzen. Es geht um die Handhabbarkeit der Maßeinheiten: Einen Dreiviertelliter Milch gibt es nicht zu kaufen. Ein Haus wird nicht auf einer halben Ziegelreihe endend gebaut. Bierkästen enthalten keine ungerade Zahl an Flaschen. Und der Schriftsetzer vermeidet es, Linienrahmen aus 1-Punkt-Linein zu bauen, damit er den inneren Rahmen aus Blindmaterial nicht so stark stückeln muß, um wieder auf seine Cicero zu kommen. (1 Cicero = 12 Punkt. 4 Cicero = 1 Konkordanz)
Wenn eine 2-Punkt-Linie das Bild einer 1p fetten Linie trägt, nennt man sie halbfett. Sie kann an den Ecken natürlich nicht sauber schließen wegen der schrägen Schulterflächen. Dafür hat man Gehrungen hergestellt, welche die an den Ecken aufeinanderstoßenden Linien zusammenfügen und dabei die Lücke durch ihre Schräge schließen. Man kennt das heute beispielsweise von Bilderrahmen.
Wenn man sich den Rahmen in der Vergrößerung anschaut, findet man die Gehrungen. Der Drucker muß die unterschiedlich abgenutzten Linienstücke so mit Papier und Seidenpapier hinterkleben, daß sie gleichmäßig ausdrucken und die Anschlüsse möglichst unsichtbar, jedenfalls unauffällig werden. Was digital in ein paar Sekunden gemacht ist, kostet den Schriftsetzer mindestens 15 Minuten. Und wehe, er hat sich beim Bauem verrechnet oder die Rahmengröße wird in der Korrektur geändert. Wenn der Drucker Glück hat, dann erledigt er die Zurichtung in 5 Minuten. Wenn die Linien sehr unterschiedlich hoch sind oder die Anschlüsse nicht stimmen und er Tricks anwenden muß, dann kann sich seine Arbeit mit der Zurichtung auch ein längeres Weilchen hinziehen.
tags: linienrahmen
Der Emil am 29. September 2014 # :
Ich lese gern hier, und ich lerne auch immer wieder etwas. Ein wenig Recherche war zur Konkordanz aber schon nötig.
Allerdings hinkt der Bierkasten-Vergleich auf allen elf Flaschen des Kastens ;-)
Beste Grüße aus Halle (Saale)
P.S.: Ich erlaube mir, eine alte, zu ihrem Beruf passende Werbung per Post auf den Weg zu bringen ;-)
Der Emil am 9. Dezember 2014 # :
Oh, das war heute eine echte Überraschung, die in meinem Postkasten lag.
Vielen, vielen Dank dafür.