Es weihnachtet am Schwimmbecken | Über Kreativgetöse
Endlich beginnt die Satzarbeit am neuen Buch von Max Goldt. Ich kam einfach nicht eher dazu, und eigentlich wollte ich auch noch mehr Satz ablegen, bevor ich mit der großen Arbeit beginne. Sei’s drum, der Ablegesatz kann warten, es muß losgehen, sonst läuft mir die Zeit davon und nimmt die Lust womöglich mit. Hier zu sehen ist ein Bild vom Bau des ersten Druckbogens im Schließrahmen des Heidelberger Tiegel, bestehend aus Seite 5 und Seite 28, was sich aus der Heftung eines Buches von 32 Seiten erklärt, deren Druckbogen ineinandergesteckt werden und so der äußerste Bogen die erste und die letzte Seite trägt, was sich nach innen hinein fortsetzt, bis auf der einzigen echten Doppelseite (ein Fachbegriff) die inneren Seiten, also 16 und 17 nebeneinander gedruckt werden. Ob der Drucker die richtigen Seiten in die Druckform zueinandergestellt hat, ergibt sich aus dem Addieren der Seitenzahlen. Deren Summe muß immer eines mehr als die Seitenmenge des gesamten Buches ergeben. Also 5 und 28 sind ebenso 33 wie 16 und 17.
Links in der Druckform die Seite 28, die den Titel “Drei Weihnachtsbilder” trägt, gesetzt aus der Solemnis von Günter Gerhard Lange. Drum herum gibt es Tannenzweige, Sterne und Kerzen — und es ist merkwürdig, im Monat Mai mit Ornamenten zu arbeiten, die gewöhnlich nicht vor Oktober und nicht nach Dezember in Dienst genommen werden.
Rechts ein Text mit der Überschrift “Insgesamt so sieben Leute”. Hier werden zwei Futura-Schnitte mit der Sinkwitz-Gotisch vereint. Diese Buchseite wird übrigens nach dem Auflagendruck zusätzlich als werbender Handzettel gedruckt, was der erste Grund ist, diesen Bogen als ersten zu drucken. Er wird zweifarbig in grün und rot gemacht, es dauert also noch ein paar Tage, bis er fertig zu sehen sein wird.
Als ich am Mittwoch die Arbeit abends beendete und fotografierte, stellte sich mir dieses Bild dar, das mich an ein Schwimmbecken erinnert. Es ist eine Freude für den Schriftsetzer und Drucker, die Typografie, den späteren Druck, hinter den Kulissen als eine tiefe, dreidimensionale und mit den Händen nach Augenmaß zu formende Welt in wirklicher Größe wahrzunehmen, nicht als reine Oberfläche, in einen verfremdenden Maßstab gesetzt, wie es am Bildschirm meistens notwendig wird. Ich frage mich eben, inwiefern dieses Bild die Arbeit der mittelalterlichen Typografen beeinflußt hat. Vielleicht gar nicht, waren sie doch nicht der Kreativität, sondern der Schönheit des Überkommenen verpflichtet. Gebrauchsgrafische und typografische Kreativität, die nicht dient, sondern nur die grafische Idee an sich herausstellt, wird überschätzt, weil sie in den allermeisten Fällen nur modisch ist in einem Bemühen um Andersartigkeit. Es bedarf vielmehr der unsichtbaren Kreativität, der Lösung kleiner Probleme für ein schönes Gesamtbild, das keine Mühe im Schöpfertum zeigen soll.
Ich lese im Internet oft über die Mühen, die von Anfängern, also Studenten etwa, beispielsweise an Plakate gesetzt werden. Die wenigsten Gebrauchsgrafiker werden später Plakate machen, und man sollte diese Arbeit überhaupt wenigen Spezialisten überlassen, denen eine grafische und kalligrafische Ausbildung mehr dienen würde als eine typografische, von der man für große Flächenwirkung nur einige Grundlagen benötigt. Plakate sind wie Handzettel kurzlebig und verdienen so viel Aufmerksamkeit nicht. Die wenigsten können als Kunstwerke gelten, die meisten sollen bloß etwas verkaufen und biedern sich dem Betrachter an und schwatzen ihm etwas mit Laustärke und ohne Geschmack auf.
Bedeutsamere Arbeiten scheinen mir erstens das Buch zu sein, und zwar nicht das heute oben beschriebene, von mir begonnene typografische Liebhaberbuch, sondern das Lesebuch, weil wir es für unsere eigene Bildung benötigen, viel mehr als alle anderen Drucksachen. Und zweitens Akzidenzen wie Speisekarten und Einladungen, die schönen Erlebnissen einen gefälligen Rahmen geben sollen. Eine Speisekarte verspricht weniger Anerkennung als eine Reklame für ein Produkt, sie bringt keine Preise ein, sie ist aber in Wirklichkeit wichtiger als der ganze Ramsch von Design, der, umtanzt von Meinungsblasen, auf bunten Veranstaltungen von Designclubs gefeiert wird, deren gleichförmige Aufgeregtheit daraufhin deutet, daß sie selbst Produkte sind, die Hersteller und Verbraucher definieren — mit zweifelhaftem Gewinn.
Ein Beispiel für dieses Getöse findet gerade in Frankfurt statt, mit Internet-Stars und Box-Weltmeister und Top-Kreativen und Future-Congress und Kreativer Elite und einer 350köpfigen Jury — und die Sprache entlarvt die Absicht: “Vom 12. bis 16. Mai 2010 wird sich die Stadt Frankfurt in ein Kreativ-Mekka verwandeln: Der Art Directors Club für Deutschland e.V. veranstaltet in der Main-Metropole den ADC Gipfel 2010. Das Festival ist das größte Branchentreffen dieser Art im deutschsprachigen Raum. Den Auftakt des diesjährigen Gipfeltreffens bildet …”
Mekka ist ein islamischer Wallfahrtsort, zu dem man pilgert. “Gipfeltreffen in der Metropole” — Ein Kindergeburtstag ohnegleichen. Aber genagelt wird auch: “Die Gewinner des ADC Wettbewerbs werden am Abend des 15. Mai 2010 geehrt und mit einem bronzenen, silbernen oder goldenen Nagel ausgezeichnet. Auf der Gala trifft sich alljährlich die kreative Elite, um mit den Wettbewerbsgewinnern zu feiern.” Gibt es Galas nicht auch auf Kreuzschiffahrten? Was mir dazu einfällt, behalte ich für mich.
tags: futura, günter gerhard lange, max goldt, sinkwitz-gotisch, solemnis
Sven Winterstein am 13. Mai 2010 # :
Da Werber und Designer von niemandem gefeiert werden, müssen sie sich selbst feiern (ADC). Ergänzend nehmen sie an (von Werbern und Designern erfundenen) Bezahl-Wettbewerben teil, was man genauso kritisch sehen kann. Dabei hätten viele von ihnen Geltung verdient, jedoch sind es häufig nicht diejenigen, die nach Geltung süchtig sind. Die Anerkennung für schönen, gut ausgeglichenen Satz erhält man eh nur von Feinschmeckern. Mit dem Max-Goldt-Publikum erreichen Sie da ja eine geeignete Gruppe.
Simon Wehr am 16. Mai 2010 # :
Holla, welch böse Worte … aber auch nicht ohne Berechtigung. Leider zählen diese Nägel doch mehr, als man oft vermutet. (Darf ich Sie bzw. sie (die Worte) bei Gelegenheit zitieren?)
Was mich zum Buch interessiert: Wie läuft in so einem Auftrag die Abstimmung ab? Sie können ja schlecht alles mal absetzen und dann dem Kunden zur Begutachtung vorlegen? Wie wird in der Vorbereitung der Entwurf entwickelt und präsentiert?
MZS am 16. Mai 2010 # :
Diese Nägel sind Verkaufsinstrumente, als solche zählen sie gewiß. Ich will nichts gegen Werbung sagen, aber sich selbst so wenig intelligent zu preisen, ist lächerlich.
Zitate bedürfen keiner Erlaubnis, dieses Blog ist öffentlich.
Zur Typografie des Goldt-Buches gebe ich wie beim letzten Buch nähere Auskunft, wenn die oben gezeigten Seiten fertig sind. Eine Abstimmung für dieses Büchlein gab es nur am Anfang. Max Goldt und ich haben die Texte ausgewählt und besprochen und redigiert. Der Kitzel an dieser Arbeit besteht für mich in der Interpretation der Texte durch Typografie, eine Abstimmung darüber mit Autor und Verlag gibt es nicht – Luxus für den Typografen.
Simon Wehr am 18. Mai 2010 # :
»Luxus für den Typografen«
Allerdings! Aber herrlich ihn von Zeit zu Zeit zu haben.