Alte Schläuche
In der neuen Ausgabe des Magazins Brand Eins fand ich eine Anzeige des Automobilherstellers BMW, die mich erheiterte. Nicht etwa, weil ich die bunten Kringel so lustig finde, eine Mischung aus Automodellbahn und Reifenspuren, sondern weil ich just am Tage zuvor in einem alten Fachmagazin gelesen habe. Nämlich dem Druckspiegel, von dem mir mein hier schon oft genannter Hamburger Kollege Helmut Bohlmann zwei Exemplare zukommen ließ.
In einem davon, dem Juni-Heft des Jahres 1965, findet sich ein geradezu prosaischer Bericht über ein typografisches Seminar für junge Schriftsetzer in Ingolstadt, das am 26. Februar beginnend an zehn Freitagabenden im “Aufenthaltsraum im Neubau des Courier Druckhauses Ingolstadt” stattfand. Die Leitung hatte der Münchener Typograf Walter Biering, der in München die Skizzier- und Entwurfskurse der Typografischen Gesellschaft München leitete. Der Verlag Donau Kurier (d.h. dessen Inhaber Dr. Reissmüller) übernahm die Kosten für die Weiterbildung der fünfzehn Gehilfen und sechs Lehrlinge. Gehilfen nennt man die gelernten Schriftsetzer, die einen Facharbeiter-Brief besitzen. 
Die erste Hausaufgabe des Seminars bestand darin, eine Titelseite und 4. Umschlagseite für die Zeitschrift BMW-Journal zu entwerfen. Bis zu vier Farben konnten eingesetzt werden. Dann heißt es: “Bei der Besprechung der Arbeiten tauchte die Frage auf, wo die Grenzen der Typografie liegen. Ein Lehrling hatte zum Beispiel ein Spielzeugauto zuerst in Druckerschwärze und dann auf dem Papier spazierenfahren lassen. Dabei war ein interessantes Muster entstanden. Bei diesem Entwurf entfachten sich die Gemüter, denn es war ja einwandfrei nicht mit typografischem Material gearbeitet worden. (…) Herr Biering meinte am Schluß, daß der Schriftsetzer unbedingt einen Blick über den Rand des Setzkastens hinaus riskieren sollte.” Auf dem nebenstehenden Bild sehen wir also rechts die erste und links die vierte Umschlagseite, also man muß sich vorstellen, daß die Seite um das Magazin herumgelegt wird.
Meine verehrten Leser werden meine Belustigung verstehen, wenn ich den farbenfrohen Einfall vermutlich recht stark bezahlter Werbe-Designer gerade am Tage zuvor in einem 44 Jahre älteren Monatsmagazin der grafischen Industrie als Arbeit eines Weiterbildungskurses für junge Schriftsetzer angeschaut hatte. Es ist wirklich schwer, in der Grafik etwas zu erfinden.
Interessant fand ich auch, daß schon damals eine Angst vor dem Bindestrich bestand. Man nimmt auch heute oft Leseschwierigkeiten hin, weil einem das Divis im Namen eines Unternehmens zu profan erscheint. Richtig heißen muß es natürlich Donau-Kurier.
Hier sind die netten jungen Leute; auf dem Foto sieht auch der Seminarleiter aus, als sei er keine 30 Jahre alt. Ach, wie gern hätte ich an einem solchen Seminar teilgenommen. Oder an einem Skizzier-Kursus. In meiner viel zu kurzen Ausbildung kam das Skizzieren nur am Rande vor. Oder eine solche Zeitschrift hätte ich gern gehabt. Das Magazin ist so interessant und berichtet bis in die Stellenanzeigen so viel vom damaligen Leben in den grafischen Betrieben, daß ich gelegentlich davon berichten will.
Als Reklame für Autos ist so etwas wohl nicht zu verwenden, aber was man heute von Programmen machen lassen kann, hat man damals eben geklebt: Buchstaben zu Bildern verschmelzen. Es ist freilich eine enorme Fummelarbeit, und wenn man so etwas aus Blei bauen würde, säße einem das Grauen vor dem Ablegen der Lettern im Nacken.
Georg Kraus am 1. Mai 2009 # :
Der Donaukurier in Ingolstadt arbeitete in den 90er Jahren mit einem Atex-Redaktionssystem. Ich selbst wurde dort nie eingesetzt, aber der Name erschien, glaube ich mich zu erinnern, nie als Koppelwort.
Ansonsten geht es mir wie Ihnen: Die Lektüre der wirklich alten Fachzeitschriften empfinde ich als sehr spannend und oft überraschend. So las ich vor einigen Wochen ein Fachbuch aus der DDR, indem es um die Rationalisierung von Arbeitsabläufen in den Setzereien ging. Von der Anordung der Satzgassen bis zum Ablegen war dort jeder einzelne Arbeitsschritt penibel zeitlich festgehalten und in ein Kosten-/Nutzenverhältnis umgesetzt worden. Das hatte nun wieder mich überrascht. Ich hatte gedacht, es sei in der DDR ohne solchen Leistungsdruck gearbeitet worden.
Ich wünsche Ihnen einen kollegialen und sonnigen 1. Mai.
MZS am 1. Mai 2009 # :
Der Leistungdruck war enorm! Wir Lehrlinge arbeiteten beispielsweise nach der Bassow-Methode. Die besagt, wenn ich mich recht erinnere, daß man auf dem Klo anfängt darüber nachzudenken, was man tut, wenn man wieder am Arbeitsplatz steht, um keine Zeit zu vergeuden. Warum das alles zu einer Produktivität geführt hat, mit der sich dieses Land nicht über Wasser halten konnte, weiß der Geier. Wir hatten so gescheite Planungs- und Kontrollkomissionen! Und auf fünf Jahre im voraus alles geplant. Und jeden Plan mit mindestens 110% übererfüllt!
Daniel Hüpenbecker am 2. Mai 2009 # :
Die Anzeigengestaltung war weniger Werberidee, sondern leitet sich vielmehr aus dem neuesten Projekt der Reihe der traditionsreichen »BMW Art Cars« ab.
Hier die (Kunst)Aktion selbst im Video: http://www.youtube.com/watch?v=-EVOu8kz71o und die anderen Art Cars: http://www.bmwdrives.com/bmw-artcars.php
Und was die alten Fachzeitschriften angeht, immer wieder schön: das Archiv der Form http://www.form.de/w3fa.php?nodeId=116&lang=1
MZS am 2. Mai 2009 # :
Vielen Dank! Hier gibt es eine Art Make-off-Filmchen, auch wenn man daraus nicht viel erfährt. Gewiß sind das keine echten Reifenspuren in der Zeitungsanzeige, und worin die Idee besteht, ist mir nicht klar. Aber ich interessiere mich nicht für Autos, daran mag es liegen.
OdG am 28. Juni 2017 # :
Gott grüß die Kunst!
Bin gerade zufällig über den Artikel gestolpert, und muss feststellen das in meinen 30 Jahren Druckindustrie eigentlich alles was Qualität im Satz einmal Standard war heute auf Word etc. zusammengedampft wurde. Auch ich hatte die Ehre bei Walter Biering München meine Ausbildung absolvieren zu können. Solche Betriebe gibt es heute leider nicht mehr.