Vornehm
Mein Hamburger Kollege, Schriftsetzer Helmut Bohlmann, schickt mir ein Foto von einem Schächtelchen aus seinem Fundus: Vornehme Visitkarten und merkt an: Überzugspapier bedruckt und mit Leinenprägung versehen. Er schätzt, daß es aus den 20er oder 30er Jahren stammt. Ich find’s sehr hübsch. Würde an meine Produkte aber nicht ranschreiben, daß sie vornehm sind.
Die Karten meiner Werkstatt werden, sofern das Format paßt, in einer angemessenen Verpackung ausgeliefert, einem hözernen Schiebedeckel-Etui, das ich nach gemeinsamer Konstruktion mit dem Hersteller in einer fränkischen Holzwarenfabrik fertigen lasse. Die erste Lieferung war aus Nußbaum-, die zweite aus leicht gebeiztem Kirschbaumholz, und die dritte, die demnächst ankommen soll, wird aus ungebeiztem Kirschbaumholz sein, das nachdunkeln kann. Fein lackiert natürlich.
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Georg Kraus am 17. November 2008 # :
Die „Goldenen 20er Jahre“
So golden waren sie nicht, die 1920er Jahre. Oder sagen wir: für die meisten waren sie nicht golden. Zilles „Milljöh“-Studien erzeugten ein eher bitteres Lachen, denn sie stellten die Realität der Proletarier dar. Käthe Kollwitz Studien bringen mich zum Schaudern. 1923 kostete 1 US-Dollar 50 Millionen Reichsmark. Die deutsche Reichsregierung unterließ bewußt Gegenmaßnahmen, um den alliierten Siegermächten aufzuzeigen, daß deren Reparationsforderungen aus dem sog. Friedensvertrag von Versailles nicht zu erfüllen war. Die nackte Not herrschte im Reich.
Aber nicht überall. Die Kultur, die leichte Muse, das Theater, das Cabaret — sie alle erlebten eine Blüte, wie es sie in Deutschland nie zuvor gegeben hatte. Bedient wurde damit vor allem das zahlende Publikum der Kriegsgewinnler und Schieber. Brecht hatte recht: Erst kam das Fressen, dann die Moral. Innerhalb kürzester Zeit wurden große Reichtümer zusammengerafft (die „Raffkes“) und auch wieder verloren. Viele dieser Neureichen waren zuvor einfache Leute gewesen. Die Wirrnisse der Zeit hatten sie hochgeschwemmt. Und sie wollte zeigen, was sie hatten. Wollten zur guten Gesellschaft gehören. So kauften sie Literatur per laufendem Meter — Hauptsache mit Goldschnitt, verwechselten Protz mit Stil und legten sich Visitenkarten zu mit der Aufschrift „fürnehm“, meine: „vornehm“.
Es gab eine Art Nachhilfelehrer für solche Raffkes, zumeist ehemalige Offiziere, Leutnants, die auch keine Pension bezogen. Erich Maria Remarque und Ernst von Salomon beschreiben in ihren Romanen solche Grotesken.
Interessierts? Wahrscheinlich nicht. Also mache ich lieber Schluß damit.
Jeeves am 18. November 2008 # :
Beide Schachteln sind sehr unterschiedlich, aber schön. Auch das “Vornehme…” gefällt mir. Der Hersteller oder Besitzer zwingt sich damit selbst ein wenig, keinen Schund herzustellen oder zu benutzen.
Georg Kraus: In dem Text taucht der Begriff “goldenenen 20er Jahre” gar nicht auf; zudem traue ich allen Lesern hier zu, dass sie in deutscher Geschichte – und auch sonst – nicht ganz doof sind.
Nur hat das nun wirklich nix mit den Schachteln und schon gannichts mit dem dazugehörigen Text von MZS zu tun.