Solemnis fernmündlich: Salve ins Ohr · 28. Februar 2008
Der gestrige Nachmittag war anstrengend. Gerade als mir die Vertreterin meines Feinpapiergroßhändlers die neue Kollektion vorstellte, läutete das Telefon. Der Schöpfer der Solemnis, Günter Gerhard Lange, fing sofort mit seinem Vortrag an, nachdem er sich vergewissert hatte, daß er mit jenem Drucker spricht, der ihm vor einigen Tagen eine Druckprobe übersandt hatte. Wenn künftig alle 87jährigen sich so anhören, wie sich in meiner Kindheit die 70jährigen anhörten, steht uns ein munteres Altwerden bevor. GGL wird von manchen Kollegen wegen seiner gelegentlichen Publikumsbeschimpfungen freundlich spöttelnd das „Maschinengewehr der Typografie“ geheißen. Die Salve, die auf mein Ohr gefeuert wurde, hat mich allerdings erfreut. Ich wagte es nicht, den Anruf zu vertagen, meine Besucherin nickte mir verständnisvoll zu und vertiefte sich in die Auslagen, und ich hörte Herrn Lange sehr schnell und sehr klar seine Ansagen machen, als lese er vom Blatt. Nachdem ich das Video mit seinem Vortrag gesehen habe, glaube ich allerdings, daß der Mann so klar strukturiert denkt, wie er redet, ohne Zettel.
Also die Solemnis. Ich gebe es mal ganz grob wieder, was in meinem Ohr hängengeblieben ist: Sie haben es richtig gemacht, hörte ich erfreut. Kompreß setzen (also ohne Zeilenabstand), ausgleichen nach Gefühl und nur nach Gefühl spationieren, auf keinen Fall weiter als auf Ihrer Probe. Sie haben recht, die Unziale wurde eng geschrieben. Sehen Sie den Querstrich am L neben dem A, also das Lieblingsproblem der Schriftsetzer, der Strich ist so kurz, daß nicht viel ausgeglichen werden muß. Schriftmischung: eine magere, am besten schmale, eckige Serifenlose, nur in Versalien. Keine schmalmagere Futura, zu oval, eher Akzidenz-Grotesk oder Helvetica. Und ansonsten bestätigte er mir nach Ansicht einiger Arbeiten im Internet, daß ich mich auf mein Gefühl verlassen soll. Überhaupt das Gefühl! Und Sie kennen Tschichold! Haben Sie das Meisterbuch? Das muß jeder haben. (Gemeint ist das „Meisterbuch der Schrift“ von Jan Tschichold, eine Sammlung der schönsten Schriften aus 2000 Jahren.) Und GGL weiter: Alles, was Tschichold geschrieben hat, stimmt, und zwar alles, was er zu jeder Zeit geschrieben hat!
Diese Tür mußte GGL bei mir nicht mehr öffnen, Tschichold ist mein erster Lehrer, d.h. seine Schriften. Es wird zwischen dem “frühen” und “späten” Tschichold, dem jungen und dem alten unterschieden. Mit derselben Verve, mit der Tschichold als junger Mann die Elementare Typographie entwickelte, vertrat er später das Gegenteil: strengste Klassik. Was man von Tschichold aber immer lernt, und so interpretiere ich GGL, ist die typographische Argumentation. Tschichold meint nicht nur, er begründet die Meinung auch. Aus Tschicholds Schriften lernt man typografisches Denken, und zwar so weiträumig, wie von keinem anderen Autor, weil niemand sonst sich in solcher Ausführlichkeit und mit solcher Überzeugungskraft geäußert hat. Tschichold hat auch deshalb gewissermaßen immer recht, weil er ein großer Stilist ist. So kann man es betrachten, wenn man auch der Form Wahrheit zugesteht: der Form, die keine leere Hülse ist. Leere Formen klingen eben auch hohl, Tschichold klingt auch in seinen Irrtümern mit einem guten vollen Ton. Seine wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Buchkunst sind einmalig.
GGL erkundigte sich dann noch höflich nach meinem Alter, befand mich jung, und in diesem Moment kamen drei Damen in meine Werkstatt, denn mittwochs am Nachmittag ist allgemeine Öffnungszeit meiner Offizin, so daß ich jetzt leider vergessen habe, was er mir noch gesagt hat. Mich macht es nervös, wenn eine Papierberaterin die Auslagen anschaut, eine Kundin ihre Briefkarten abholen möchte und zwei interessierte Besucherinnen sich bei den Visitenkarten einen Überblick verschaffen und ich gleichzeitig an die Interpretation einer Unziale im Bleisatz denke. Herr Lange kündigte mir die Übersendung von Kopien einer Hauptprobe Solemnis der Schriftgießerei an, dann wünschten wir uns alles Gute, und ich kümmerte mich um meine Gäste.
Erst später wurde mir klar: das war ein Gespräch zwischen einem Schriftsetzer und dem letzten Schriftentwerfer, der für den Bleiguß gearbeitet hat (Korrektur: In Kommentar 1 erinnert Christian an Hermann Zapf, der auch noch für den Bleisatz entworfen hat). Das Verhältnis zwischen Setzer und Schriftschöpfer ähnelt dem von Herr und Diener. Eine Schrift kann nur so gut sein, wie sie vom Setzer (oder Typografen) eingesetzt und gesetzt wird. Das ist heute nicht anders, nur fällt es mir auf, weil die Welt des Bleisatzes sanft ins Ruhekissen der Geschichte sinkt.
Ich habe auch den Berliner Gebrauchsgrafiker Axel Bertram befragt, der auch ein Schriftentwerfer und Kalligraph und Typografiehistoriker ist, und der vermutlich erschrocken die Hände heben und verlegen lächeln würde, wenn man ihn Koryphäe nennte. Mit der Unziale sei es vorbei, meinte er. Eine Schrift für den christlichen Bereich, möglicherweise auch fürs Rustikale. Aber als Textschrift tot. Schriftmischung: ganz schwierig, harter Kontrast, also serifenlose, ansonsten eher Garamond oder Jenson als Walbaum. Kalligraphisch allerdings eine Freude: es sei ein Vergnügen, Unziale mit der Feder zu schreiben.
Da steh’ ich nun, immerhin etwas bestärkt in meinem Gefühl bei der Schriftanwendung. Daß ich die Solemnis kompreß (ohne Zeilenabstand, Gegensatz: splendid) gesetzt habe, halte ich meinem Gefühl zugute, nachdem mir der Schriftschöpfer selbst dies als Regel an die Hand gegeben hat. Setzte ich die Buchstaben weiter auseinander, ginge der Eindruck von Zeilenbändern verloren, die Wörter würden auch in der Senkrechten ineinander fließen. Das Engersetzen der Schrift muß ich ausprobieren, die Zeilenabstände werden dann auffälliger werden. Mir bleibt nichts übrig, als zu experimentieren und mir Originale, das heißt Abbildungen von Originalen anzusehen. In den nächsten Tagen bleibt mir allerdings keine Gelegenheit für einen längeren Bibliotheksbesuch. Aufgeschobene Hausaufgabe.
Zum Schluß für heute noch ein Appetithäppchen aus dem Fotoapparat. Zu diesem Pferdchen habe ich meinen jungen Mitarbeiter (es ist ganz gut, wenn man einen kennt, der noch jünger ist) überredet. Im nächsten Eintrag erzähle ich, warum er dies Rößlein gezeichnet hat und wie daraus ein Druckstock wurde und zu welchem Zwecke dieser dienen wird. Und auch zwei Seiten des Goldt-Büchleins habe ich gedruckt, darin eine Schreibschrift des berühmten Ernst Schneidler, davon also in den nächsten Tagen mehr.
— Martin Z. Schröder
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Sapristi! · 20. Februar 2008
Nicht, daß die Arbeit am neuen Buch von Max Goldt zögerlich fortschritte. Nur kam am Freitag voriger Woche ein Paket meines Bleisatzlieferanten, das mich etwas aus dem Tritt brachte. Es enthielt drei Grade einer Schrift mit dem sprechenden Namen Solemnis. Diese Type haben wir dem Schriftentwerfer Günter Gerhard Lange (geb. 1921) zu verdanken, 1953 wurde sie erstmals gegossen. Es ist die erste Bleischrift, die ich kaufe, dessen Entwerfer lebt. Sie ist mit ihren 55 Jahren eine der jungen Schriften, und sie wurde von einem damals jungen Mann gemacht.
Günter Gerhard Lange hat 1996 einen Vortrag gehalten, den man sich hier ansehen und anhören kann.
Als ich diese Schrift im Angebot meines Lieferanten entdeckte, wurde ich schon etwas nervös, denn ohne eine bestimmte Type vor Augen zu haben, so wußte ich doch schon, daß mir eine Schrift mit einer gewissen Strichstärke und zugleich Grazilität für den Umschlag noch fehlte. Hier nun meinte ich etwas zu entdecken, orderte, und als die Sendung am Freitag hereingeschleppt wurde, ließ ich alles andere stehen, packte aus, setzte die drei Grade in einen Kasten, machte, daß ich die Maschine von einem Auftrag freibekam, indem ich schnell noch Visitenkarten zu Ende druckte und probierte endlich die Solemnis im Andruck aus, gleich mit dem Titel des Büchleins.
Die Unziale (lat. uncia – Zoll), so heißt diese Klasse von nur aus Majuskeln (Großbuchstaben) bestehenden Schriften, ist eine heute wenig gebräuchliche Type. Sie stammt aus einer Zeit, da es noch keine Minuskeln (Kleinbuchstaben) gab. Mit gemächlichen Zügen wurde sie von den schreibkundigen Mönchen zu Pergament gebracht – an Papier war noch nicht zu denken. Die Unziale war die erste Schrift, der man eine gewisse Routine in den Breitfederzügen ansah, ihre Vorgängerinnen, die Formen der Capitalis, waren noch geformt wie die in Stein gemeißelten Schriften und erforderten noch langsamere Schreibbewegungen. Die ersten Unziale sind seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. nachweisbar. In Lexika findet man die Unterteilung griechisch (4. Jh. bis Ende Mittelalter), lateinisch (vor allem 4. bis 8. Jh.) und gotisch (12. bis 15. Jahrhundert). In England und Irland wurden die Unziale und vornehmlich Formen der Halbunziale, in welcher sich die Kleinbuchstaben schon andeuten, länger beibehalten. Die karolingische Minuskel, also die erste flüssige Schreibschrift mit schnell zu ziehenden Kleinbuchstaben, erreichte erst mit den normannischen Eroberungen 1066 den angelsächsischen Raum.
Die Solemnis von Günter Gerhard Lange ist eine Neuinterpretation einer lateinischen Unziale. Man erkennt das Neue zuerst am augenfälligen i-Punkt, der sich erst im Spätmittelalter aus einem Akzentzeichen von Minuskeln herausbildete. Man sieht es aber auch an den Antiqua-Formen, etwa des T in „Atlas“ auf den Fotos, des A, auch das M der Solemnis ist nicht so rund wie die M der echten Unzialen. Freilich gab es um das Jahr 700 auch kein W, das entstand ja erst viel später als Ligatur (aus V resp. U – im englischen Namen „double U“ für den Buchstaben W ist das noch kenntlich). Auch andere unserer Buchstaben sind damals noch nicht geformt. Aber E, D, L zeigen klare Unzial-Figuren.
Ich habe die Schrift zuerst ganz eng gesetzt, so wie die handschriftlichen Unziale gefügt waren. Aber das erschien mir sogleich undiskutabel. Die Solemnis ist eben keine Unziale, sondern eine versale Druckschrift mit Unzial-Zügen. Man muß wohl ausgleichen, und weil sie sehr kräftig geschnitten ist, also breite Striche zeigt, habe ich sie auch so weit spationiert wie hier zu sehen ist. Ob das richtig ist? Ich bin mit meinen ersten einfarbigen Drucken nach Hause marschiert, hab den Abend lang meine Bücher und das Internet ohne große Erfolge durchsucht (aus wenig Quellen drippen Unzial-Infos, nur bei Edward Johnston finden sich ausführlichere Hinweise auf die Schreibweisen mit Kiel- und Rohrfedern), mich schlafen gelegt und bin am Tag darauf schon morgens ungeduldig wie ein Kind auf den Spielplatz in die Werkstatt geeilt, denn nach dem Aufwachen hatte mir klar vor Augen gestanden, welche Farben und welches Papier diese Schrift nun zum Leuchten bringen würden.
Ich habe, angekommen in der Offizin, die beiden T-Varianten eingesetzt, ohne zu wissen, ob ich im Sinne meiner neuen Schrift handelte, habe die Harmonisierung der Buchstaben korrigiert und vor allem eine ebenfalls nur nach dem Gefühl getroffene Entscheidung umgesetzt, nämlich als zweite Schrift, als Note am Fuß des Textes, die kursive Walbaum einzusetzen. Welche Druckschrift kann man denn vernünftig zu einer Unziale stellen? Ich handle selten nur in Verlaß auf mein Gefühl, diesmal blieb mir nichts anderes übrig, und ich ermutigte mich: Nach 27 Jahren Umgang mit Druckschrift hat dein Gefühl doch wohl ein Mitspracherecht und sogar Entscheidungskompetenz nun im Falle des Zweifels, also bitte! Ein zweifelhaftes Argument, aber ein anderes hatte ich nicht. Diese Karte (im Original 148 × 98 mm) betrachte ich vorerst als Studie, nicht als mustergültige Lösung. Ich habe die Karte an einen kalligrafisch beschlagenen und mit allen Wassern gewaschenen Gebrauchsgrafiker geschickt mit der Bitte um Literaturhinweise über die Unziale. Ein befreundeter Mediävist, der zufällig hereingeschneit war, tippte auf die Karte, meinte: „Ottonisch?“ und empfahl mir das Paläografische Lexikon für weitere Recherche.
Farben: das Blumenornament ist gedruckt in einem kräftigen Grau mit einem Stich Orange, den Rot-Ton habe ich aus einem bläulichen Rot mit einem Stich orange gemischt, das Blau ist ein dunkles, pigmentreiches in Richtung rot gebrochenes.
Ich kann mich gar nicht satt sehen an dieser Schrift. Ich habe lange nicht so große Freude über einen Neuzugang empfunden. Ich werde sie wohl selten einsetzen, sie ist vor allem für Titel geeignet, für Akzidenzen nur in Ausnahmen. Sie erscheint mir so freundlich, heiter, leicht, trägt aber auch den festlichen Charakter ihrer Vorbilder in sich. Sie ist eine Erinnerung an die farbigen Seiten des Mittelalters, sie braucht Farbe oder farbige Umgebung, sie ist von Natur aus eine lebendige Prachtschrift, sie verheißt Freude. Aber ich muß noch ein wenig mehr lernen, wie ich sie am besten zur Geltung bringe. Ich werde das dann hier darlegen, wenn ich mehr weiß.
Von meinem Autor Max Goldt erreichte mich dieser Kommentar: Sapristi! Man fühlt sich sofortamento in ein altes, ja niederländisches Naturkundemuseum versetzt.
— Martin Z. Schröder
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