Zifferns Engtanz · 21. Dezember 2007
Gelegentlich werde ich gebeten, Drucksachen für Leute herzustellen, die weniger scharf sehen können als “ich und du”. Meistens sind das alte Menschen. Es geht dann nicht nur darum, einen größeren Schriftgrad einzusetzen. Außerdem müssen alle Angaben deutlicher unterscheidbar sein, vor allem in Zahlen. Steht ein Schrägstrich in einer Ziffernfolge, so gebe ich diesem seitlich zusätzlich Raum, damit er nicht mit einer sieben verwechselt wird.
Zahlen setze ich dann überhaupt ein wenig weiter als üblich. Auch der Zeilenzwischenraum wird etwas weiter. Dabei geht es nur um Nuancen. Auch Drucksachen für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen müssen typografisch schön sein.
In einer relativ neuen DIN (Deutsche Industrienorm) wurde die Gliederung der Telefonnummer aufgehoben. Früher hieß es, Telefonnummern seien, von hinten abgezählt, in Zweiergruppen zu gliedern. Heute sollen alle Ziffern ohne Zwischenraum gesetzt werden, egal, wie lang die Nummer ist. Dieser Norm darf man nicht folgen, wenn man möchte, daß Zahlen leicht gelesen werden.
Einer meiner Lieferanten schreibt seine vielstelligen Rechnungsnummern in einer etwa 12 Punkt fetten Serifenlosen ohne Gliederung und sehr eng auf. Ich muß immer ein Auge zukneifen, um nicht vor Anstrengung zu schielen, und abzählen, um diesen Engtanz der Ziffern auseinander zu klamüsern, denn ich muß die Nummer schließlich abschreiben auf das Überweisungsformular. Mein Lieferant macht mich regelmäßig zum Leseanfänger. All seine Drucksachen wurden von einem bekannten deutschen Design-Studio entworfen. Alle Produkte aus diesem Design-Studio sind an ungekonnt gesperrten kursiven Kleinbuchstaben zu erkennen, also einem Regelbruch. Manche Drucksachen verschiedener Unternehmen sehen aus, als gehörten sie unter eine Haube. Tabubruch als Markenzeichen und dadurch Erkennbarkeit der Kunden eines Typografen scheint mir kein Ausweis für bedeutende Vernunft zu sein, geschweige für grafische Kenntnis.
Mehr als fünf Ziffern sind schwer zu lesen. Eine alleinstehende sechsstellige Ziffernfolge kann ich mir ungegliedert noch denken, alles darüber hinaus ist Unfug. Zumal Versalziffern auch wie Versalien behandelt werden müssen, nämlich nicht nur gegliedert sondern auch gesperrt und eventuell ausgeglichen. Blinzelnd kann man die Lesbarkeit einer Zeile unter schwierigen Bedingungen prüfen.
Gestern habe ich aus der Schrift Garamond eine Postleitzahl erst in der Größe Korpus (10 Punkt) für eine Briefkarte, dann in Borgis (9p) für eine Visitenkarte gesetzt. (Die Schrift auf dem Foto läuft im Original etwa 6,5 mm breit, die Ziffern sind mit einem halben Punkt spationiert, d.h. leicht weiter gesetzt für bessere Unterscheidbarkeit und Lesbarkeit.) Dabei ist mir aufgefallen, daß die Ziffern des kleineren Grades breiter laufen und genauso hoch sind, somit also größer als die des größeres Grades. Sie sind allerdings auf einen schmaleren Kegel gegossen. Die Buchstaben der Borgis sind kleiner als die der Korpus, so wie man es erwartet. Ich kann also entweder kleinere Ziffern aus der größeren Schrift haben oder kleinere Buchstaben aus der kleineren. Was haben sich die Schriftschneider dabei gedacht, die Verhältnisse zwischen Buchstaben und Zahlen so stark zu variieren? Schade, daß man nicht mehr anrufen und fragen kann, die Firma gibt es nicht mehr. Auch im Bleisatz ist nicht alles typografisches Feingold, man muß immer wieder prüfen und nacharbeiten, wenn es geht.
— Martin Z. Schröder
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