Unterschneiden · 17. September 2008
Versalien (Großbuchstaben) müssen erst ausgeglichen werden und dann leicht gesperrt. Ich habe an anderer Stelle dieses Blogs darüber schon geschrieben, im Register unten kann man unter “Versalien ausgleichen” mehr finden. Manchmal wird auf das Spationieren (sperren) verzichtet, um den ornamentalen Charakter der Schrift zu betonen. Namentlich fette Schriften bilden dann Muster aus hellen und dunklen Flächen, deren Wirkung für den typografischen Zweck besser geeignet sein kann als die harmonisierte und leicht perlende Versalzeile, die in der Regel das Ziel der typografischen Bemühung im Umgang mit Versalien ist.
Vor dieser Aufgabe stand ich nun, aber in der Schrift ließen sich A und V nicht enger zusammenschieben. (Auf den Fotos stehen die Lettern Kopf, denn der Schriftsetzer liest Spiegelschrift zwar fließend, aber nur von links nach rechts, das geht nur überkopf.) Also habe ich die Lettern angefeilt. Erst vorsichtig dicht am Kopf der Type die Schräge mit der Feile eingesetzt, dann den ganzen Körper abgeschrägt, erst mit dem Messer, dann mit der feinen, glättenden Feile. Das ist eine etwas langwierige und fummelige Arbeit. Immer wieder hält man die beiden Typen unter der Lupe aneinander oder legt sie auf glatte Kanten auf, um Unebenheiten zu finden. Die Buchstaben werden zwar “beschädigt”, aber ihr Schriftbild bleibt unberührt, und sie sind auch nach diesem chirurgischen Eingriff funktionsfähig. Ihnen wird übrigens nicht Fett, sonden Fleisch abgesaugt. So nennt sich die nichtdruckende Fläche um die Buchstaben herum. Fachsprachlich nennt sich der Vorgang Unterschneiden. So nennt man es auch noch in der digitalen Typografie, auch wenn die Zeichen am Bildschirm verschoben werden und kein Schnitzmesser mehr benötigt wird.
Nun konnte ich im Satz mit Seidenpapier den Raum zwischen A und V genau bestimmen. Auf dem Foto ist die Form nicht geschlossen, deswegen tanzen die Lettern in der Zeile. Beim Anschließen der Form muß man die geschrägten Lettern genau im Blick haben, sie neigen freilich durch ihre unnatürlichen Winkel dazu, aneinander vorbei aus der Zeile zu drängen.
Dieses Foto zeigt die genauen Korrekturen und die Breite des Feldes, auf dem die Operation vor sich ging. Es ist der Teil einer Firmenzeile auf einer Visitenkarte. Der Raum zwischen R und C wurde ganz leicht vergrößert, in der Originalgröße fällt es nicht auf, die Zeile wird durch die kaum wahrnehmbare Lücke leichter lesbar, weil sie aus zwei zusammengefügten Namen besteht. Das Bild darunter zeigt eine Druckschwäche an den Buchstaben links und rechts vom A. Dieser Fehler ist durch das Druckbild eindeutig zu klären: Das A steht zu hoch, die Walzen werden minimal angehoben und können die nebenstehenden Buchstaben nicht vollständig einfärben. Ebenso stört die hochstehende Letter beim Druck, sie zieht mehr Druck auf sich, den sie den benachbarten Typen raubt. Lösung: Man nimmt die Form aus der Maschine, entfernt den störenden Krümel unter der hochstehenden Letter, öffnet die Form, drückt die Letter nach unten, verklopft die Form neu (ein lederbespanntes Holzstück [Klopfholz] wird über die Form bewegt und leicht angeschlagen, damit alle druckenden Elemente auf einer Höhe stehen) und druckt.
— Martin Z. Schröder
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