Lettern auf der Leine · 27. Dezember 2007
Wie nennt man eigentlich das Genre von so köstlichen Aufträgen wie diesem: „Mir gefällt die Visitenkarte von Christian Morgenstern in Ihrem Schaufenster. Bitte drucken Sie mir ein Absender-Etikett für meine Geschäftspost. Ich nehme den Entwurf, den Sie für gut befinden. Vielleicht nicht ganz so spielerisch belebt wie die Visitenkarte und gerne in einem schmalen Querformat. Eine Bitte: ein G möge darin als herausgehobener Buchstabe vorkommen.“ Ist das Auftragskunst à la Vision By Call, wie sie die Künstlerin Barbara Wrede anbietet? Solche Entwürfe entstehen nicht am Bildschirm, dazu brauche ich mein gewohntes Handwerkszeug in der Werkstatt: Schreibfedern, Bleistift, Lineal, Papier, Schere, Klebstoff und jederzeit die Möglichkeit, eine Letter aus einem Kasten zu nehmen und einen Andruck herzustellen. Ich habe eine ganze Reihe von Schriften, die als digitale Fonts nicht zur Verfügung stehen. Die Skizzen, die dabei herauskommen, sind oft so flüchtig, daß es mehr Vorstellungskraft bedarf, als ein Laie, der heutzutage an die Klarheit der eigenen Computer-Ausdrucke gewöhnt ist, aufbringen kann.
Wenn ich beinahe machen kann, was mir gefällt, stehe ich erst einmal etwas wenig dumm da: mit so wenigen Anhaltspunkten und so viel Freiheit. Üblicherweise befrage ich meine Kunden zumindest ein wenig, um eine Richtung bestimmen zu können. Die meisten Menschen haben zumindest vage Vorstellungen davon, welche Art von Entwurf zu ihnen passen könnte. Manchmal sieht das Ergebnis eines Entwurfs-Prozesses zwar gänzlich anders aus als anfänglich gedacht, aber dazu kommt es durch gezielte Arbeit. Angesichts von Entwürfen klärt sich vieles. Aber so ganz frei?
Gewöhnlich verlangt meine Arbeit keine Originalität, weil ich mich an älteren Stilrichtungen orientiere. Ideen muß ich entwickeln, wenn es gilt, innerhalb dieser Entwurfsgrenzen Texte unterzubringen und einen Zeilenfall gut anzuordnen. Der freie Entwurf, der sich an der klassischen Moderne orientiert, an den mehr oder minder wilden Typo-Grafiken der Zeit nach dem Jugendstil, bedarf einer anderen Herangehensweise. Text kann als Element für sich genommen werden und auf die Form wirken, anstatt sich ihr unterzuordnen. Nach einigen Wochen, in denen ich immer mal wieder grübelte, wie so ein Etikett aussehen könnte und mir klar wurde, daß die Freiheit durch die Nennung eines Vorbildes nicht so grenzenlos ist wie zuerst angenommen, nachdem meine Vorstellungen sich also ordneten und ich einiges verrückte Zeug noch vor der Skizze verwarf, verfiel ich auf den Gedanken, ein Versal-G als räumliche Figur einzusetzen. Wie verhält sich ein optisch kreisrundes G (etwa aus der Futura), wenn es auf eine Leine gehängt wird? Mit der Redis-Feder (auch Schnurzugfeder genannt, sie gibt einen immer gleich breiten Strich) habe ich flüchtig ein lichtes Futura-G gezogen, dazu ein zweites mit kleinerem Umfang zur Kontrolle, habe die beiden ausgeschnitten und nachgeschaut, wie sie sich neigen, wenn man sie auf eine Leine hängt. Durch den abgewinkelten Haken des G kann man die Leine nicht ziehen, ohne daß das G einem gestürzten e ähnelt. Und wenn man das G vorne an der offenen Spitze einhakt, dann schwingt der Haken leicht nach oben. Das war’s, was ich genau sehen wollte.
Nun galt es, den roten Faden in den vorgegebenen Text laufen zu lassen. Ich hatte mit den echten Daten einige Varianten probiert, die ich hier nicht zeigen kann. Denn für die Fotos wurden Buchstaben so oft umgesteckt, bis mein Auftraggeber nicht mehr erkannt werden kann, der Diskretion wegen. Das ging ganz einfach, weil die Lettern der Schreibmaschinenschrift allesamt gleich breit sind.
Auf einem Foto wird der spitzwinklig verkeilte Bleisatz gezeigt. Auch das wäre für die Skizze schwierig. Ich drucke meistens zuerst den Satz an, schneide ihn aus und mache eine Klebeskizze. Lieber ziehe ich die Entwurfsarbeit aber gleich bis in die Druckmaschine und setze die Skizze manchmal schon um, wenn ich sie nur im Kopf habe. Der Satz wird für den Druck genau eingerichtet in der Schließform der Druckmaschine. Wenn eine zweite Farbe dazu kommt, müssen beide Formen und die Anlage für das Papier in der Maschine sehr exakt gebaut werden, damit die Farben paßgenau drucken. Die Handanlagen, die ich konstruiere, arbeiten präziser als in einfarbig druckenden Offsetdruckmaschinen, die das Papier für mehrere Farben mehrmals durchläuft.
Möglicherweise ist es sinnvoll, das Etikett schräg aufzukleben, so daß die rote Linie parallel zur langen Papierkante läuft. Das abgebildete Kuvert hat die Maße des Formates DIN C5, also etwas größer als eine halbe A4-Seite. Das Etikett ist 80 mm breit und 26 mm hoch.
— Martin Z. Schröder