Schaftstiefelgrotesk? · 15. April 2014
Immer wieder wird versucht, dem Begriff »Schaftstiefelgrotesk« auf die Spur zu kommen. Aber die Spur verliert sich schon 1993. Es ist wahrscheinlich kein alter Begriff.
Die Bezeichnung »Schaftstiefelgrotesk« wird heute verwendet für besonders grobschlächtige, übermäßig vereinfachte, linear gezeichnete gotische Schriften, die von 1933 an entstanden und für Agitation, Propaganda und Reklame verwendet wurden für alles, was laut wirken mußte. Sie heißen Tannenberg, National, Potsdam, Großdeutsch usw.
Schriftlich zuerst erwähnt wird der Begriff »Schaftstiefelgrotesk« von Hans Peter Willberg (1993), der behauptet, er habe ihn von einem oder mehreren älteren Schriftsetzern in diesem Zusammenhang sagen gehört. Eine Bestätigung dieser Aussage stammt von Bernhard Schnelle, der sich ebenso zu erinnern meint, den Begriff in seiner Jugend (ohne Zeitangabe) von einem älteren Setzer aus Berlin gehört zu haben. Belege gibt es für diese Erinnerungen nicht, keine Erwähnung in Briefen oder Tagebüchern, keine weiteren Zitate in sekundären Quellen. Der Begriff ist vor 1993 nicht nachweisbar.
Ich nehme an, Willberg hat den Begriff erfunden, da er formal nicht zu den Schriften paßt, sondern sie ideologisch einordnet, was man doch eher erst nach dem Krieg und in der Rückschau auf diese Schriften tat. In den 1930er Jahren waren es zeitgemäße Buchstabenformen, die auch sehr gut zum Bauhaus paßten und zum dortigen Streben nach Kasernenhofordnung, sowohl in der Architektur als auch im typografischen Entwurf.
Das Wort »Schaftstiefel« findet sich in der typografischen Literatur zwölf Jahre nach der Nazizeit zuerst bei Jan Tschichold, der damit einerseits die von ihm in seiner Jugend selbst beförderte »Neue Typografie«, die militärisch anmutenden Entwürfe des Bauhauses und seiner Nachfolger angreift (Tschichold, 1957), andererseits die von ihm so genannte »in Schaftstiefeln marschierende Kochschrift« (Tschichold, 1960). Wobei hier nicht klar ist, welche Schrift Tschichold meint, denn Koch hat keine dieser typischen neugotischen Schriften gezeichnet. Vielleicht meint er eine der holzschnittartigen Antiqua-Schriften? Den Begriff Schaftstiefelgrotesk verwendet Tschichold nicht. Wenn er diese Schriften vorher zusammenfaßte, dann beispielsweise als »sonderbare deutsche Modelettern der Hitler-Ära« (Tschichold, 1948).
Formal stehen diese Schriften der Hitler-Ära dem Schläppchen, also dem Spitzentanzschuh näher. Sie stehen stocksteif auf stumpfen Zehenspitzen. Das Abbild eines Stiefels ist in diesen Typen nicht zu finden. Die militärische Anmutung entsteht aus ihrer groben Form und ihrer engen hohen Dunkelheit. Diese Schriften laden nicht zum Lesen ein. Man kann nur Werbung für grobe Dinge mit ihnen machen, für Ideologie, für Krieg. Und für Bier.
Wenn man den Begriff »Schaftstiefelgrotesk« auf eine Schrift anwenden will, dann paßt er zur Egyptienne, die man auch serifenbetonte Grotesk heißt. Diese Schrift entstand zusammen mit der Serifenlosen Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Serifen der Eyptienne sind so dick und schwer, daß fast alle Buchstaben aussehen, als trügen sie hohe Stiefel. Diese Schrift wird nur für Überschriften und in Akzidenzen verwendet, für längere Texte ist sie unbrauchbar.
— Martin Z. Schröder
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